Vor Jahr und Tag
andere Art von Genußmittelmißbrauch anzeigen, doch im großen und ganzen sah der Tote zu gesund aus, um ein User gewesen zu sein.
Todesursache war ein Kopfschuß aus mittlerer Distanz, keine Austrittswunde. Die Kugel war ein Kaliber 22, die mehrere Schädelknochen zerschlagen und Splitter in die weiche Gehirnmasse getrieben hatte. Durch die kinetische Energie des herumwirbelnden Geschosses waren gewaltige Mengen Gehirnmasse zerstört worden, wie eine Flutwelle, die alles zerstört, was ihr in den Weg kommt.
Röntgenaufnahmen von den Zähnen und anderen Körperteilen des Toten wurden zwecks Identifizierung zur Marine geschickt. Je nachdem, wie effizient man dort arbeitete, müßte ihnen der Name des Toten innerhalb von ein paar Tagen vorliegen. Marc würde dann versuchen, die Familie ausfindig zu machen, und vielleicht, aber nur viel-leicht, konnte der arme Schlucker dann in einer oder zwei Wochen ein Begräbnis bekommen.
Zu seiner Überraschung trafen die benötigten Informationen zur Identität des Toten schon am nächsten Tag ein. Irgend jemand in dem riesigen Bürokratiedschungel aus Militär und Zivil war entweder ganz schön auf Zack, oder die Zähne des Toten waren zufällig unter den ersten gewesen, die man überprüft hatte. Jetzt hatten sie einen Namen: Dexter Alvin Whitlaw aus Keyesburg, West Virginia. Die nächsten Verwandten waren seine Frau, Shirley Jeanette Allen Whitlaw, und seine Tochter, Karen Simone Whitlaw. Marc kannte ihre Sozialversicherungsnummern und die Anschrift ihres letzten bekannten Wohnsitzes. Er würde sie finden.
Das Licht auf dem Anrufbeantworter blinkte, als Karen von der Arbeit nach Hause kam. Sie war versucht, es zu ignorieren und einfach nur eine schnelle Dusche zu nehmen und ins Bett zu fallen. Seit sie das Haus vor vier Monaten verkauft hatte und in ein Apartment gezogen war, waren die Nächte noch einsamer für sie. Nach einem langen, harten Arbeitstag im Krankenhaus hatte sie einfach nicht mehr die Energie oder auch nur das Interesse am Auspacken, so daß ein Großteil ihrer Sachen noch immer in Umzugskisten steckte, und sie kam sich vor, als würde sie in einem spärlich möblierten Motelzimmer oder gar einem Warenlager hausen. In den halbleeren Räumen schien jedes Geräusch zu hallen, was ihr Gefühl der Einsamkeit noch erhöhte. Sie vermißte Jeanette schrecklich.
Schlafen konnte sie auch nur sehr schlecht, und sie hatte kaum Appetit, so daß sie bereits an Gewicht verloren hatte. In dem verzweifelten Bemühen, sich aus ihrer Depression herauszureißen, hatte sie die Schicht mit einer Kollegin ge-tauscht und arbeitete nun nachts. Die Strategie funktionierte, bis zu einem gewissen Grad zumindest, denn wenn sie frühmorgens nach Hause kam, war sie so müde und erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und wie tot ins Bett fiel. Nach dem ersten alptraumhaften Tag, an dem sie geschlagene elfmal von Telefonverkäufern und Leuten, die sich verwählt hatten, geweckt worden war, lernte sie darüber hinaus, den Apparat abzustellen.
Seit kurzem jedoch mühte sie sich, wenigstens ein paar Stunden aufzubleiben, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, um zumindest den Anschein von Normalität zu erwecken, aber nicht heute. Heute hatte sie eine wahre Höllennacht hinter sich. Sie wollte nichts als unter die Dusche kriechen, die schmerzenden Füße ausstrecken und einfach nur schlafen.
Sie arbeitete auf einer chirurgischen Station, auf die die Patienten nach ihrer Operation verlegt wurden, sobald sich ihr Zustand stabilisiert hatte. Alle litten unter Schmerzen, doch jeder besaß eine unterschiedliche Toleranzschwelle. Es gab Leute, denen man es nur am erhöhten Blutdruck anmerkte, daß sie starke Schmerzen litten; wieder andere schrien sich beim kleinsten Wehwehchen die Seele aus dem Leib. Letzte Nacht war die Nacht der Heulsusen gewesen. Sie hatten Schmerzen , verdammt noch mal, und brauchten jetzt sofort was dagegen: eine Tablette, den Morphintropf aufdrehen, egal, wenn es nur half. Natürlich durften die Schwestern die Dosis nicht ohne ärztliche Zustimmung erhöhen; alles, was sie tun konnten, war, das Geschrei zu ertragen. Mitten in der Nacht einen Arzt aufzutreiben, der eine Erhöhung der Dosis bewilligen konnte, war in der Regel vergebliche Liebesmüh; die Schwestern brauchten eine Meute Bluthunde, um den diensthabenden Arzt aufzustö-bern, der ein Genie darin war, überall zu sein, nur nicht dort, wo man ihn gerade brauchte, und der notorisch taub
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