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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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nächsten Wahl gegen ihn. Er wurde im Alter von einundvierzig Jahren Senator der Vereinigten Staaten und baute von diesem Augenblick an beständig seine Machtstellung und Reputation aus.
    Mit einem Ruck befreite sich Senator Lake aus seinen Gedanken und stieg die restlichen Stufen in den ersten Stock hinauf. Dann ging er den breiten Gang entlang nach hinten, wo die Zimmerflucht seines Vaters lag. Er klopfte leise an und öffnete dann die Tür. »Wie geht es ihm heute?«
    »Er hat schön gegessen«, erwiderte die Pflegerin mit einem weichen Lächeln. Cinda Blockett war ein sanftes Wesen und so behutsam mit seinem Vater, als wäre er ein neugeborenes Baby. Sie und ihr Mann James, ebenfalls ein ausgebildeter Pfleger, teilten sich die erste Schicht, wobei er die nötige Muskelkraft für die Pflege eines Vollinvaliden beisteuerte.
    James hatte Walter William Lake in den riesigen, bequemen Sessel gesetzt, der vor der enormen Fensterfront stand, von der aus man einen herrlichen Blick über den weitläufigen Park und den glitzernden blauen See hatte, an dem majestätische Pfauen patrouillierten. Stephen zog sich einen Stuhl heran und nahm die gekrümmte, knochige Hand seines Vaters in seine. »Guten Morgen, Vater«, sagte er sanft und wartete eine Sekunde, um zu sehen, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, daß er ihn erkannte, ein Blinzeln oder etwas ähnliches, dann begann er ihm die Neuigkeiten des Tages zu berichten, sowohl die Fernseh-als auch die Zeitungsnachrichten. Er beschränkte sich dabei nicht nur auf Politik, sondern sprach auch über die Wirtschaft und über wissenschaftliche Themen. Jedesmal wenn ein Space Shuttle hochgeschossen wurde, informierte Stephen seinen Vater. Er wußte nicht, ob das Erzählte in den noch funktionierenden Bereichen des Gehirns seines Vaters Aufnahme fand oder nicht, doch gab er nie auf.
    Er saß mehr als eine Stunde lang bei seinem Vater, was Cinda und James Zeit für ein gemütliches Mittagsmahl ließ. Sein Vater wurde niemals allein gelassen. Pfleger und Pflegerinnen arbeiteten in drei Schichten, fütterten und versorgten ihn, trainierten seine atrophierten Muskeln, betteten ihn immer wieder um, damit seine dünne, brüchige
    Haut sich nicht aufschürfte. Sie machten ihm das Leben so komfortabel wie möglich, spielten seine Lieblings-CDs und im Fernsehen die Programme, die er am meisten gemocht hatte; sie lasen ihm vor oder spielten auf Tonband verschiedene Bücher ab. Falls es nach dem massiven Schlaganfall, den sein Vater vor elf Jahren erlitten hatte, in seinem Gehirn noch irgendwelche kognitiven Bereiche gab, so hoffte Stephen, daß er genug tat, um diese Bereiche zu stimulieren, um seinen Vater so glücklich zu machen, wie es die Umstände erlaubten.
    Er war nun einer der mächtigsten und am meisten respektierten Männer in Washington, doch würde er nie mehr erfahren, ob sein Vater stolz auf ihn war.
    Als Cinda und James zurückkamen und Stephen die Suite seines Vaters verließ, wartete Raymond wie erwartet auf ihn. Der neunundsechzigjährige Raymond Hilley diente schon seit fünfzig Jahren bei den Lakes. Stephen konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Raymond nicht dagewesen wäre, die rechte Hand seines Vaters und fast ein Onkel für ihn und William, als sie noch klein waren. Als William starb, war Raymond auf den Boden gesunken und hatte geweint wie ein kleines Kind, große, dicke Tropfen waren ihm übers zerfurchte Gesicht geronnen.
    Als vor elf Jahren ein Schlaganfall Walter William Lake fällte und Stephen zum Oberhaupt der Familie wurde, ging Raymonds unerschütterliche Loyalität auf ihn über.
    »Wir wollen in mein Büro gehen«, sagte der Senator und schlug Raymond mit der Hand auf die Schulter, so wie es sein Vater als Zeichen seiner Freundschaft und Zuneigung immer getan hatte.
    Dort wartete schon Kaffee auf sie, der hereingebracht worden war, als Cinda und James ihren Lunch beendet hatten und zur Suite zurückgekehrt waren. Bei Hayes war der
    Senator hinter dem Schreibtisch sitzengeblieben, während Hayes auf einem davorstehenden Stuhl Platz nahm, aber mit Raymond ging er zur Sitzecke, und sie setzten sich wie Freunde, wie Familienmitglieder zusammen. Er schenkte zuerst Raymond Kaffee ein, mit drei Löffeln Zucker und so viel Milch, daß der Kaffee kaum noch braun war. Den eigenen Kaffee trank er mit nur einem Tröpfchen Milch, einem Hauch nur. Sein Vater hatte ihn immer schwarz getrunken, doch selbst nach all dieser Zeit schaffte es Stephen nicht, auf

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