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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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war, wenn er angepiepst wurde.
    Dann hatte sie auch noch eine Patientin, eine zweiunddreißigjährige Mutter von zwei Kindern, verloren. Sie war wegen eines durchgebrochenen Blinddarms eingeliefert worden und einige Tage lang in recht kritischem Zustand gewesen, jetzt jedoch, wie es schien, auf dem Weg der Besserung. Gestern nacht war sie dann gleich nach dem Abendessen zur Toilette gegangen und auf dem Weg dorthin im Gang einfach zusammengebrochen. Ein Blutgerinnsel hatte ihre Lungenschlagader verstopft, und sie starb trotz aller Bemühungen. So etwas passierte einfach, aber der Schock darüber blieb immer gleich groß. Das einzige, was sich geändert hatte, war, daß Karen inzwischen gelernt hatte, den Schock weitgehend zu ignorieren und weiterzuarbeiten, so gut sie eben konnte. Alle Ärzte und Schwestern mußten das lernen oder den Beruf aufgeben.
    Das i-Tüpfelchen auf eine bis dahin schon schreckliche Nacht setzte dann ein neunzehnjähriger Drogensüchtiger, den irgendein Idiot aus der Psychatriestation hatte schlüpfen lassen, auf die man ihn zu seiner eigenen Sicherheit und der der anderen verlegt hatte. Schöne Sicherheit. Und wo war der Kerl hingelaufen? Auf die Chirurgie natürlich, wo es all die leckeren Medikamente gab.
    Auf dem Weg dorthin hatte er sich irgendwann seines Flügelhemds entledigt und war spitternackt, die Pupillen so stark kontrahiert, daß er aussah wie ein Alien, mit einer Frisur, als ob er in eine Steckdose gegriffen hätte, durch die Gänge gewütet und hatte auf der Suche nach den ersehnten Drogen reihenweise Schreibtische abgeräumt. Schließlich fand er dann das verschlossene Medizinschränkchen, doch der Schlüssel dazu befand sich in Judy Camliffes Tasche, die die Stationsschwester war. Die Sicherheitsbeamten trafen ein, als er gerade dabei war, das Metallschränkchen auseinanderzunehmen. Unglücklicherweise ist es ziemlich schwer, einen nackten Mann zu überwältigen, da es nichts gibt, woran man sich festhalten könnte und man dauernd abrutscht. Der Junge kämpfte sich so oft frei, daß Karen gar nicht mehr mitzählte. Sie balgten sich in den Gängen, warfen Servierwägen um, Krankenblätter flogen durch die Gegend, und Patienten wachten auf, die prompt entweder in Panik gerieten oder nach mehr Schmerzmitteln schrien. Als sie den Jungen schließlich überwältigt hatten, sah die chirurgische Station aus wie nach einem Bombenabwurf. Und als die Schwestern schließlich mit ihrer Schicht zu Ende waren, fühlten sie sich auch so.
    Die Nachricht stammte wahrscheinlich von einem Vertreter oder einer Wohlfahrtsorganisation. Sie hatte bis jetzt noch nicht die Zeit gehabt, ihre neuen Nachbarn besser kennenzulernen, und alle ihre Freunde und Freundinnen arbeiteten ebenfalls im Krankenhaus und wußten, daß sie zur Zeit Nachtschicht hatte; sie würden sicher nicht um diese Zeit anrufen. Sie konnte sich wirklich keinen Grund vorstellen, warum sie das scheußliche Ding abhören sollte, dennoch ließ sie ihre schwere Tasche auf den Boden plumpsen und ging zu dem Apparat. Sie könnte ja doch nicht schlafen, wenn sie wüßte, daß das rote Licht blinkte.
    Aus reiner Gewohnheit nahm sie Block und Bleistift zur Hand, die immer neben dem Telefon lagen, falls es doch einmal einen Anruf gab, den sie erwidern mußte. Sie drückte auf die Wiedergabetaste und hörte zu, wie sich das Band zurückspulte.
    Nach einigem Schnurren und Klicken unterbrach eine gemächliche Baritonstimme die Stille. Aus irgendeinem
    Grund hielt sie unwillkürlich den Atem an. Die Stimme besaß etwas Betörendes, eine warme, tiefe, ausgesprochen männliche Stimme, die fast wie eine Berührung auf sie wirkte. Trotz ihres gedehnten, gemächlichen Südstaatenakzents besaß sie eine gewisse Härte und unterschwellige Autorität. Er sagte: »Miss Whitlaw, hier spricht Detective Chastain vom New Orleans Police Department. Ich muß mit Ihnen wegen Ihres Vaters sprechen. Sie erreichen mich unter folgender Nummer -.«
    Er nannte die Nummer, aber Karen war so von der Rolle, daß sie nicht eine einzige Zahl mitschrieb. Hastig drückte sie auf die Stop-Taste, dann auf Replay. Als das Spulen und Klicken aufhörte, hörte sie die kurze Nachricht nochmals ab und wurde dabei erneut so sehr von dieser Stimme gefangengenommen, daß ihr die Nummer beinahe ein zweites Mal entgangen wäre. Rasch kritzelte sie sie auf den Block und starrte die Schriftzeichen dann einen Augenblick wie betäubt an.
    Dexter war offenbar in Schwierigkeiten und nahm an,

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