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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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dieses winzige Tröpfchen Milch zu verzichten, um den bitteren Geschmack des Kaffees ein bißchen zu mildern. Manchmal schämte er sich für seine Schwäche; er kam sich dabei fast wie eine verwässerte Version seines Vaters vor, wie ein Milchbrötchen - ja, dieser Vergleich gefiel ihm schon besser, er klang besser, und die Vorstellung war nicht ganz so schlimm.
    Natürlich stimmte es nicht, das wußte er selbst am besten. Er hatte in seinem Leben ein paar knallharte Entscheidungen fällen müssen, und dabei dachte er nicht nur an Dexter Whitlaw und Rick Medina. Er war nicht stolz auf das, was er hatte tun müssen, aber er zweifelte auch nie daran, daß es notwendige Entscheidungen gewesen waren.
    Raymond nippte an der übersüßen Brühe in seiner Tasse und seufzte behaglich. »Ich bin ihm bis zum Flughafen gefolgt«, berichtete er in seiner tiefen, brummigen Baßstimme, die klang, als hätte er in seiner Jugend Kreide gegessen - und zwar mit Appetit. »Er hat nicht angehalten, hat sein Handy nicht benutzt, ist direkt zum Abfertigungsschalter marschiert und dann zum Gate.«
    »Er hätte von dort aus jemanden anrufen können.«
    »Das würde er nicht tun. Da könnte er viel zu leicht belauscht werden.«
    Das stimmte, und Stephen akzeptierte Raymonds Urteil mit einem Vertrauen, wie er es keinem anderen entgegengebracht hätte.
    »Wenn Sie ihm nicht trauen -«, sagte Raymond langsam und ließ den Satz unbeendet ausklingen, damit der Senator den Gedanken aufnehmen und weiterspinnen konnte, so wie vor vierzig Jahren, als er den Jungen das Jagen beibrachte und wissen wollte, was sie tun mußten, wenn ein großer Elch auftauchte.
    »Dann sollte ich ihn nicht nehmen«, beendete der Senator seufzend den Satz. »Das würde ich auch nicht, aber ich brauche seine Kontakte. Er ist ein guter Puffer, und ich glaube nicht, daß er plaudern wird. Immerhin lebt er von seinem Ruf. Wenn er keine Geheimnisse bewahren könnte, würde ihn keiner mehr nehmen.«
    »Hat er die Situation im Griff?«
    »Der Erpresser wurde ausgeschaltet; aber da sind noch ein paar lose Enden.«
    »Lose Enden sind wie lose Schnürsenkel, man stolpert andauernd darüber.« Wieder nippte Raymond an seinem Kaffee.
    »Ich habe bereits Schritte in die Wege geleitet.«
    »Gut. Mr. Walter - nun, ich möchte nicht, daß etwas herauskommt, das ihm schaden könnte. Er ist ein großer Mann. Er hat ein paar Dinge getan, die die Leute nicht verstehen würden, da sie nicht die ganze Geschichte kennen. Er verdient es nicht, daß man schlecht über ihn redet, besonders jetzt, wo er sich nicht mehr wehren kann.«
    »Nein«, erwiderte der Senator seufzend, »das verdient er nicht.«
    »Männlicher Kaukasier, hundertneunundsiebzig Komma fünf Zentimeter groß, Gewicht hundertzweiundachtzig Pfund, Alter zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Graues
    Haar, braune Augen. Besondere Kennzeichen: Ein >Semper Fi<-Tattoo am linken Unterarm, eine zehn Zentimeter lange Operationsnarbe auf der unteren rechten Bauchseite, eine fünf Zentimeter lange keloidähnliche Narbe diagonal auf dem rechten Quadrizeps
    Marc schaltete ab, während der Pathologe weiter pflichtschuldigst sämtliche Narben des Opfers für die Nachwelt auf Tonband auflistete. Keine dieser Narben sah aus wie eine Schußwunde, aber ein paar davon erweckten den Eindruck, er sei einer scharfen Klinge zu nahe gekommen. Die meisten Narben gehörten jedoch zu denen, die jeder Mensch im Lauf seines Lebens so abbekommt: Narben an den Knien von Stürzen bei wilderen Spielen in der Kindheit und sonstige Kratzer und alte Schürfwunden. Am wichtigsten im Hinblick auf seine Identifizierung war jedoch die Tätowierung. Man ersah daraus nicht nur, daß er tatsächlich beim Militär gewesen war, sondern auch, bei welcher Truppe er gedient hatte. Nun, sie würden bald einen Namen für diesen John Doe haben.
    Wie zu befürchten stand, hatte der Nachrichtensprecher am Morgen mit entsprechender Grabesstimme, damit die Leute den Ernst der Lage auch ja begriffen, von dem Mord im Viertel berichtet. Wieder einmal wurden die Statistiken von der hohen Mordrate der Stadt bemüht, gefolgt von einem nichtssagenden Kommentar aus dem Polizeipräsidium, wiederum gefolgt von einem leidenschaftlichen Appell des Bürgermeisters, der da lautete, daß die Bürger -und die Touristen - sich in New Orleans sicher fühlen müßten und auch wurden. Das war ein guter Wahlkampfslogan; er hatte ihn schon früher benutzt.
    Marc sah sich die Autopsie gleichgültig an. Er

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