Vor Jahr und Tag
besaß einen guten Magen und hatte sich nie übergeben müssen wie einige von den anderen Detectives. Wie die Pathologen vermochte auch er die schrecklichen Gerüche zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was ihm die Leiche zu sagen hatte. Ziemlich praktisch, wenn man bei der Mordkommission arbeitete.
Diese Leiche jedoch würde ihnen nicht viel zu sagen haben. Ein glatter Schuß in die Stirn war wohl mehr als eindeutig. Das Wo, Wann und Wie stand außer Frage, was fraglich war, war das Wer und Warum.
Die jungen Frauen, die den Toten entdeckt hatten, waren auch keine Hilfe. Keine von ihnen konnte sich entsinnen, jemanden gesehen zu haben, Punktum! Weder zu Fuß noch mit einem Auto. Die Schießerei mußte sich nur Minuten zuvor ereignet haben, doch niemand, nicht einmal die unmittelbaren Anwohner, hatten auch nur das geringste gehört.
Die persönlichen Habseligkeiten des Toten hatten auch nichts zutage befördert, da nämlich nichts zu finden gewesen war, außer einem Ehering, der sorgfältig in den Saum eines Hosenbeines eingenäht gewesen war. Vielleicht hatte er ihn ja gestohlen, doch paßte er auf seinen Ringfinger, und er hatte ihn sorgfältig versteckt gehalten, was Marc vermuten ließ, daß ihm der Ring mehr wert gewesen war als das Geld, das er ihm in einer Pfandleihe eingebracht hätte. Der Kerl war früher mal verheiratet gewesen, war’s vielleicht immer noch.
»Sie gehen mir auf die Nerven, Chastain«, sagte der Doktor ungehalten und knipste das Mikro aus, damit er frei sprechen konnte. Er war ein vielbeschäftigter Mann, abgehärmt und ungeduldig, und sprach nur selten mit den Detectives, die seinen Autopsien beiwohnten.
Marc zog stumm fragend eine Augenbraue hoch.
»Ja, das tun Sie.« Ein benutztes Skalpell wurde anklagend in seine Richtung gestoßen. »Sie stehen einfach nur da, reglos und stumm wie ein Stein. Sie unterbrechen mich nie mit Fragen, Sie werden auch nicht grün und fangen an zu würgen, alles, was Sie tun, ist glotzen. Mann, Sie blinzeln ja nicht mal. Was machen Sie, sich in Trance zu versetzen?«
»Wenn ich irgendwelche Fragen hab, stelle ich sie, wenn Sie fertig sind«, erwiderte Marc milde.
Das Skalpell zuckte erneut anklagend in seine Richtung. »Sie tun’s schon wieder. Verziehen nicht mal eine Miene. Tun Sie mir 'nen Gefallen, und verhalten Sie sich ein wenig menschlich, oder ich halte Sie für einen Roboter.« Die Assistentin hinter ihm unterdrückte ein Lachen.
»Falls Sie irgendwelche Zweifel haben, laß ich Sie nachher Zusehen, wenn ich pisse.« Das sagte er vollkommen unbewegt und so schlagfertig, daß die Assistentin diesmal nicht mehr an sich halten konnte.
»Danke, aber ich verzichte auf diese wundervolle Gelegenheit.«
»So ein Angebot mach ich nicht jedem. Sie sind bis jetzt der einzige, also sollten Sie sich’s noch mal überlegen. Aber machen Sie sich keine falschen Vorstellungen von meinen sexuellen Vorlieben.«
Die Augen der Assistentin, die eine OP-Maske trug, funkelten belustigt. Der Doktor bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Sie brauchen gar nicht daran zu denken, sich freiwillig für den Job zu melden.«
»Zu spät«, gestand sie fröhlich.
Marc zwinkerte ihr zu.
»Vergessen Sie, daß ich überhaupt was gesagt hab«, brummte der gute Doktor, knipste das Mikro wieder an und machte der Auseinandersetzung so ein Ende. Zu schade. Marc hatte es genossen, ihn ein wenig zu piesacken, und der Assistentin hatte die kleine Unterbrechung offenbar ebenfalls gefallen. Es war das erste Mal, daß Marc er-lebte, daß der brüske Doktor eine Autopsie unterbrach, um eine persönliche Bemerkung zu machen.
Aus reinem Übermut schob er die Hände in die Taschen und begann mit seinem Kleingeld zu klimpern. Nach zwei Minuten ging das Mikro erneut aus. »Vergessen Sie, daß ich was gesagt hab«, fauchte ihn der Doktor an. »Und hören Sie auf, mit dem Kleingeld rumzuklimpern, verdammt noch mal! Klingt ja, als wären Sie Santa Claus.«
Marc zuckte die Schultern und nahm die Hände aus den Taschen, doch seine Augen funkelten vergnügt.
Etwas später hatte ihnen der Tote verraten, daß er sich, bis auf die Tatsache, daß er tot war, in erstaunlich guter Verfassung befand. Alle wichtigen Organe waren kerngesund, kein Anzeichen von Verkalkung in den Venen, gute Muskeldefinition, keine Einstiche in den Armen oder zwischen den Zehen, die auf intravenösen Drogenmißbrauch schließen ließen. Der Toxikologiebericht lag zwar noch nicht vor und mochte eine
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