Vor Jahr und Tag
Schlaf.
Das schrille Geklingel des Telefons riß sie aus ihren Träumen. Erschrocken und desorientiert schoß Karen im Bett hoch und stöhnte, als ihr klar wurde, daß sie vergessen hatte, das Klingelgeräusch abzustellen, bevor sie sich hinlegte. Die Digitalanzeige auf ihrem Radiowecker schien sie zu verspotten: neun Uhr dreißig.
Sie griff nach dem Hörer, nur um das nervtötende Gebimmel nicht länger hören zu müssen. »Hallo«, sagte sie verschlafen.
»Miss Whitlaw?«
Diese Stimme. Bloß zwei Worte, und ein Prickeln lief ihr über den Rücken. Sie räusperte sich. »Ja.«
»Hier spricht Detective Chastain vom New Orleans Police Department. Ich hab gestern eine Nachricht für Sie wegen Ihres Vaters hinterlassen.«
»Ja.« Sie wollte sagen, daß sie heute nachmittag hatte zurückrufen wollen, aber er sprach schon weiter, merklich kühler nun.
»Es tut mir leid, Miss, aber Ihr Vater wurde vor zwei Tagen bei einer Schießerei getötet.«
Karen war vor Schreck wie betäubt. Sie umkrallte den Hörer, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. »Vor zwei Tagen?« Warum hatte man sie nicht schon eher verständigt?
»Er hatte nichts bei sich. Wir konnten ihn erst aufgrund seiner Zahnabdrücke, die beim Militär Vorlagen, identifizieren.« Er sprach weiter, meinte, sie solle nach New Orleans kommen, um Dexter zu identifizieren. Seine Stimme klang geschäftsmäßig, ja beinahe barsch, und Karen mühte sich, klar zu denken.
»Ich versuche noch heute einen Flug zu bekommen«, sagte sie schließlich. »Wenn nicht -«
»Die Fluglinien haben besondere Kontingente für Notfälle wie diesen«, unterbrach er sie. »Sie können heute nachmittag hier sein.«
Wenn Sie wollen. Sie hörte die stumme Anschuldigung aus seinem kurz angebundenen Ton heraus und ärgerte sich darüber. Dieser Mann wußte nichts über sie; wer war er, daß er über ihr Verhältnis oder Nicht-Verhältnis zu ihrem Vater urteilte?
»Ich ruf Sie an, wenn ich da bin«, sagte sie mit vor Zorn gespannter Stimme.
»Kommen Sie einfach in den achten Distrikt in der Royal Street.«
Karen wiederholte die Adresse und meinte dann: »Danke für den Anruf.« Sie hängte auf, bevor er noch etwas sagen konnte.
Dann zog sie die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Dexter war tot. Sie versuchte, die Nachricht zu verdauen, aber das Ganze war einfach zu irreal. Sie wußte, daß sie mehr fühlen sollte als nur einen Schock, aber sie war wie leer, vollkommen ausgebrannt. Wie konnte sie um einen Mann trauern, den sie kaum kannte? Seine Abwesenheit war es, die ihr Leben geprägt hatte, nicht seine Anwesenheit.
Sie warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Sie fühlte sich wie ein wandelnder Zombie, aber da gab es Anrufe zu erledigen, einen Flug zu buchen, einen Koffer zu packen. Nur ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl bewog sie, sich in Bewegung zu setzen.
Ihr Vater war tot. Der Gedanke wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen, während sie unter der kalten Dusche stand. Sie hatte ihn nie richtig gekannt, und nun würde sie ihn auch nie mehr richtig kennenIernen.
6
»Karen Whitlaw, Karen Whitlaw.« Ein Mann namens Carl Clancy stand in einer Telefonzelle - es hatte ewig gedauert, bis er eine mit Telefonbuch fand - und fuhr mit dem Finger die hauchdünne Seite entlang. Es war um die Mittagszeit, und die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn nieder. Er drehte sich mit dem Rücken zur Sonne, so daß das Telefonbuch im Schatten lag. Keine Karen Whitlaw war aufgeführt, aber er fand jemanden namens K. S. Whitlaw. Wetten, daß sie das war. Alleinstehende Frauen benutzten immer nur ihre Initialen; das war inzwischen so weit verbreitet, daß sie ebensogut ihre vollen Namen hätten angeben können.
Er warf ein paar Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer. Nach viermaligem Klingeln schaltete sich ein Anrufbeantworter ein, und eine angenehme Frauenstimme verkündete: »Sie haben die Nummer 555-0677 gewählt. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Kluges Mädchen, dachte er mit Genugtuung. Sie gibt ihren Namen nicht an jeden Arsch weiter, der zufällig ihre Nummer wählt. Ständig gaben die Leute auf dem Anrufbeantworter ihren Namen preis oder verkündeten mit den Schildern auf ihren Briefkästen »Hier wohnen die Hendersons« oder ähnlichen Mist. Trottel. Alles, was ein Einbrecher zu tun hatte, war, den Namen Henderson im Telefonbuch nachzuschlagen und dann anzurufen, um zu sehen, ob jemand zu Hause war. Wenn keiner ranging, brauchte man nur noch reinspazieren,
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