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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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sie würde ihn schon herauspauken. Nein, dachte sie, er nimmt an, Jeanette wird ihn rauspauken; er konnte ja nicht wissen, daß seine Frau schon seit sechs Monaten tot war. Hatte der Detective jetzt »Miss Whitlaw« oder »Mrs. Whitlaw« gesagt? Durch seinen gedehnten Südstaatenakzent klangen die Silben ein wenig verwaschen.
    Sie konnte nicht widerstehen. Sie spielte die Nachricht noch einmal, nicht nur, um zu hören, ob er sie oder ihre Mutter gemeint hatte, sondern auch wegen dieser tollen Stimme. Beim genauen Hinhören klang es, als hätte er »Miss« gesagt, was heutzutage eigentlich nicht mehr üblich war, aber ganz sicher war sie sich nicht.
    Sie wollte nicht anrufen. Sie wollte nichts von Dexters Schwierigkeiten hören und hatte sowieso nicht die Absicht, ihn irgendwo rauszupauken. Alles, was sie wollte, war ins Bett fallen.
    Sie mußte an ihre Mutter denken und wie Jeanette ihn immer wieder zurückgenommen hatte, wie sie immer für ihn dagewesen war, wenn er sie brauchte. Er war nie für sie dagewesen, aber Jeanettes Liebe für ihn war unerschütterlich.
    Auf einmal wurde Karen von einer Erschöpfung erfaßt, die nichts mit physischer Müdigkeit zu tun hatte. Ein Leben voller Bitterkeit und Mißtrauen und nicht zuletzt die letzten sechs Monate einsamer Trauer um ihre Mutter hatten sie so erschöpft. Sie hatte es satt, sich noch länger von ihrem Vater und der Tatsache, daß er sie im Stich gelassen hatte, herunterziehen zu lassen. Es war nun einmal geschehen, und nichts, was sie tat, konnte etwas daran ändern. Sie wollte nicht einer von diesen Menschen werden, die ihr ganzes Leben lang über ihre schwere Kindheit jammerten: Warum sollte ihre Kindheit sie davon abhalten, ihr jetziges Leben vernünftig zu leben? Sie hatte ihre Mutter über alles geliebt, liebte sie noch immer und würde noch lange um sie trauern, aber es war nun an der Zeit weiterzuleben. Statt sich von ihrem leeren Apartment deprimieren zu lassen, sollte sie lieber die Schachteln auspacken und sich hier heimisch machen.
    Vielleicht sollte sie ja noch mal zur Schule gehen, die Ausbildung zur Fachschwester machen. Der OP-Bereich zum Beispiel würde sie sehr interessieren. Es war eine herausfordernde und faszinierende Aufgabe für jeden, der dem Druck standhalten konnte. Sie behielt in Notfällen gewöhnlich einen kühlen Kopf und vermochte in brenzligen Situationen schnelle und richtige Entscheidungen zu treffen, beides Eigenschaften, die für eine OP-Schwester unerläßlich waren.
    Sie holte tief Luft. Zum ersten Mal seit Jeanettes Tod hatte sie das Gefühl, wieder die Kontrolle über sich selbst, über ihr Leben zu besitzen. Sie mußte sich mit Dexter auseinandersetzen, und wenn auch nur ihrer Mutter zuliebe, also konnte sie ebensogut gleich in New Orleans anrufen. Ohne sich weiteren Überlegungen hinzugeben und womöglich noch ihre Meinung zu ändern, griff sie nach dem Hörer und wählte Detective Chastains Nummer.
    Unbewußt hielt sie den Atem an und wappnete sich vor dieser Stimme. Wie dumm von ihr, sich so von einer Telefonstimme aus der Ruhe bringen zu lassen, aber diese Erkenntnis änderte leider auch nichts an ihrer heftigen Reaktion.
    Sie ließ es mehrmals klingeln, doch niemand nahm ab. Detectives arbeiten doch sicher länger als Bankangestellte, überlegte sie.
    Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Viertel vor acht. »Idiotin«, murmelte sie und hängte auf. Louisiana befand sich in der Central Time Zone, also eine Stunde hinter Ohio. Detective Marc Chastain war sicher nicht morgens um Viertel vor sieben in seinem Büro anzutreffen.
    Sie konnte nicht so lange aufbleiben, bis er erreichbar war. Tatsächlich konnte sie sich keine fünf Minuten mehr auf den Beinen halten. Dexter mußte eben warten.
    Aber anrufen würde sie. Wenn sie heute nachmittag aufwachte, würde sie gleich anrufen.
    Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, stolperte sie ins Schlafzimmer. Mit vor Müdigkeit fahrigen Bewegungen zog sie sich aus. Gähnend schlüpfte sie zwischen die kühlen Laken, streckte selig seufzend die schmerzenden Füße aus und wackelte mit den Zehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Detective Chastain wohl aussehen mochte. Die Stimme eines Menschen paßte fast nie zu seinem
    Äußeren; der Detective war wahrscheinlich ein gutmütiger Cop mit einem Bierbäuchlein, der kurz vor der Pensionierung stand und ein paar erwachsene Kinder hatte. Aber seine Stimme klang wie warmer Honig, und mit ihr im Ohr fiel sie in einen tiefen

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