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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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sie aus irgendeinem Grund nicht ausstehen, aber wenn er die Spur mit der Lebensversicherung verfolgte, würde er in einer Sackgasse landen. Vielleicht erwartete er ja, daß sie sich über ihn hermachte, weil er offensichtlich nicht sehr viel unternahm, um herauszufinden, wer ihren Vater ermordet hatte. Aber das hatte sie gar nicht erwartet. Sie war Krankenschwester; sie hatte schon zu oft erlebt, was passierte, wenn ein Obdachloser einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Die Polizei operierte landesweit mit einem begrenzten Budget und konnte weder ihre kostbare Zeit noch das begrenzte Budget auf aussichtslose Fälle verschwenden. Krankenhäuser schon; sie taten es dauernd. Man mußte es zumindest versuchen, oder man konnte gleich aufgeben.
    Das hätte sie ihm erklären können, doch war ihr zu heiß, und sie war viel zu müde und erschöpft, um sich Gedanken darüber zu machen, was in ihm vorging. In ihrem Kopf hämmerte es wie auf einem Schlagzeug. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment in tausend Scherben zu zerspringen, und das einzige Mittel dagegen war, den Deckel eisern auf ihren Gefühlen zu halten, sich mit aller Kraft zu beherrschen. So machte sie es auch bei der Arbeit, wenn ein Patient trotz all ihrer Mühen und ihrer liebevollen Pflege starb, egal wie gut der Arzt war, egal ob es sich um ein süßes, unschuldiges Kind oder eine lebenslustige alte Dame handelte. Die Leute starben eben. Das passierte dauernd. Sie hatte lernen müssen, damit umzugehen.
    »Er hat sich nicht mehr bei uns gemeldet«, stieß sie schließlich hervor.
    »Er war ein Vietnam-Veteran.« Eine Feststellung, keine Frage.
    »Ja.« Sie wußte, worauf er hinauswollte. Der verstörte Kriegsveteran, der psychiatrische Hilfe braucht, aber von seiner Familie einfach auf die Straße geworfen wird, weil er zuviel Mühe macht, weil er ihnen mit seinen Stimmungsumschwüngen, seinen Gewaltausbrüchen und seiner Unberechenbarkeit eine peinliche Last geworden ist.
    Aber das sagte Detective Chastain nicht; das brauchte er gar nicht. Karen las es in seinem kalten, durchdringenden Blick.
    »Er hat uns verlassen, als ich noch ein Kind war«, versetzte sie in scharfem Ton, schärfer als beabsichtigt. Sie konnte fühlen, wie sie allmählich die Beherrschung verlor, wie ein alter Schmerz, scharf und brennend, in ihr hoch wollte, ein Schmerz, den sie sich weigerte, genau anzusehen, und sie kämpfte die aufsteigenden Gefühle mit aller Macht nieder. Dafür war später genug Zeit, wenn sie allein war und sie dieser harte Mann mit seinen schwarzen, buschigen Brauen nicht mehr mit Augen, die seine Verachtung kaum verhehlen konnten, ansah.
    Sie war ihm keinerlei Erklärungen schuldig. Sie brauchte ihm nichts von dem Schmerz, der Wut und den Ängsten, mit denen sie aufgewachsen war, zu erzählen, bloß damit er weniger schlecht von ihr dachte. Alles, was sie tun mußte, war, die nächsten Tage irgendwie durchzustehen, dann nach Ohio und zu ihrer Arbeit zurückzukehren und in das leere Apartment, das noch nicht zu einem Zuhause geworden war, obwohl sie schon seit vier Monaten darin lebte.
    »Was muß ich tun, um die Leiche freizubekommen?« fragte sie einen Augenblick später mit ihrer gewohnt kühlen, beherrschten Stimme.
    »Sie müssen ihn identifizieren, ein paar Papiere unterschreiben. Ich zeig Ihnen alles. Haben Sie schon Vorkehrungen getroffen, ihn mit zurück nach Ohio zu nehmen?«
    Karen saß vollkommen perplex da. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. All ihre Gedanken waren darauf ausgerichtet gewesen, die Beerdigung zu überstehen, aber nicht, wo diese stattfinden sollte. Sie besaß in Ohio keinen Grabplatz, an dem Dexter beerdigt werden konnte. Neben dem Grab ihrer Mutter war kein Platz mehr - nicht, daß er das gewollt hätte, ihre Mutter schon.
    Karens fest zusammengelegte Hände zuckten krampfhaft, als sie versuchte, mit dem scharf aufsteigenden Schmerz fertig zu werden. Sie hatte ihre Mutter enttäuscht. Jeanette hatte nur so wenig von ihr verlangt und immer alles gegeben, aber sie, Karen, hatte wegen ihres Zorns auf ihren Vater versäumt, das zu tun, was ihre Mutter gewünscht hätte.
    »Ich - ich hab überhaupt nicht -«, stammelte sie und wünschte dann, sie hätte gar nichts gesagt. Sein Gesichtsausdruck war steinern, und wieder hatte sie das starke Gefühl, daß er sie nicht mochte.
    Eine Welle der Reue wollte sie übermannen, aber nicht wegen dem, was Detective Chastain von ihr halten mochte, sondern weil sie so viel Zeit damit verschwendet

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