Vor Jahr und Tag
ihren toten Vater identifizieren zu müssen, ebenso zusetzte wie die unerträgliche Schwüle. »Ich bin Krankenschwester«, hörte sie sich sagen. »Der Anblick einer Leiche wird mich schon nicht umwerfen. Trotzdem -« Trotzdem war sie froh, daß es nur auf Video sein würde.
Er nahm sie beim Ellbogen, eine eher altmodische Geste. »Dann bringen wir’s wohl am besten hinter uns, nicht wahr?«
7
Dr. Pargannas, der Pathologe, schob die Kassette ins Videogerät. Während Karen auf den kleinen Fernsehschirm schaute, schaute Marc auf sie. Es fiel ihm nicht schwer; sie hatte ein zartes, klares, ausgesprochen feminines Profil. Von der Seite sah ihr Mund zart und verletzlich aus. Er lehnte sich zurück, senkte die Lider und beobachtete sie mit Adlerblick, als wäre sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall.
Dr. Pargannas sprach leise auf sie ein. Marc kannte die Leier und hörte gar nicht mehr hin. Manchmal mußte man besonders mitgenommene Angehörige auf das Kommende vorbereiten, ihnen Mut machen, sie ein wenig trösten. Doch Miss Whitlaw straffte nur die Schultern. »Ich bin bereit«, sagte sie mit ihrer kühlen, beherrschten Stimme. Nein, empfindlich war sie nicht, die Kleine.
Er zuckte innerlich mit den Schultern. Natürlich war sie nicht empfindlich, sonst könnte sie ihren Job ja nicht erledigen. Er wettete, daß sie in einer Notfallsituation ein wahrer Schatz war, hegte aber Zweifel, was ihr Verhalten danach betraf, am Krankenbett. Er selbst war schon zweimal im Krankenhaus gelegen, beide Male dank seines Jobs, und war der Meinung, daß es auf jeder Station, auf jedem Stockwerk mindestens eine Krankenschwester gab, die ein kaltherziges Biest war. Vielleicht war Miss Whitlaw ja kein Biest, aber Anzeichen von Wärme hatte er an ihr bisher auch nicht bemerkt. Nein, von ihr würde er sich ganz sicher keine Spritze in den Hintern geben lassen wollen.
Aber sie erregte ihn, daran bestand kein Zweifel, mit ihren dunklen, langwimprigen Schlafzimmeraugen und dem irritierend zarten Mund. Er hätte sie nicht anfassen sollen, aber lieber Gott, er konnte sie ja wohl kaum vor seinen Augen umfallen lassen. Also hatte er sie gehalten und mit seinem Körper gestützt, hatte gefühlt, wie weich sie war, hatte den süßen Duft ihrer Haut gerochen - und er wollte sie. Er wußte nicht, ob auch nur ein Funken Leidenschaft in ihr zu finden war, aber herausfinden wollte er’s, soviel stand fest.
Hör auf, an ihre Muschi zu denken, Chastain, und reiß dich zusammen, schalt er sich. Dies war weder die Zeit noch der Ort für schmutzige Gedanken, und außerdem bekam er dabei einen Ständer.
Dr. Pargannas schaltete auf Wiedergabe, und auf einmal füllte das bleiche, wächserne Gesicht des Toten den Bildschirm.
Wenn er Miss Whitlaw nicht so genau beobachtet hätte, wäre Marc ihre Reaktion entgangen. Er sah, wie sie kaum merklich zusammenzuckte, sich jedoch schnell wieder zusammenriß, und er sah, wie sie ihre schönen, schmalen Hände auf dem Schoß ineinander verkrampfte. »Ja, das ist mein Vater«, sagte sie ruhig, doch ihre Fingerknöchel traten weiß hervor.
Marc blickte von jenen verräterischen Händen auf ihr ruhiges Gesicht und war so schockiert, als hätte ihm jemand eine schallende Ohrfeige verpaßt. Plötzlich kamen ihm all die kleinen Details in den Sinn, alles ergab einen Sinn wie bei einem Puzzle. Aber es war ein ganz neues Bild. Lieber Himmel, wie konnte er sich nur so geirrt haben? Er kam sich vor wie der letzte Trottel, weil er das alles von Anfang an hätte bemerken müssen. Nun musterte er sie mit noch schärferem Blick.
Nein, sie war nicht so unberührt von dem Ganzen, wie sie erscheinen wollte. In seinem Büro war ihm aufgefallen, daß sie, wann immer sie die Fassung zu verlieren drohte, sich rasch wieder zusammenriß, die Schultern straffte und das Kinn vorstreckte. Sie haßte es, die Beherrschung zu verlieren, noch dazu vor einem Wildfremden, aber auf einmal wußte er, daß sie alles andere als gefühllos war.
Vielleicht fühlte sie ja zuviel. Wieder wanderte sein Blick zu ihren fest ineinandergekrallten Händen; sie hielt sich buchstäblich eisern im Griff. Vielleicht hatte sie ja gelernt, sich zu schützen, indem sie vorgab, nichts zu fühlen, indem sie die Leute auf Distanz hielt, damit sie ihr nicht weh taten. In einem Moment der Klarheit erkannte er, daß sie schrecklich einsam sein mußte und schrecklich traurig, aber daß sie irgendwann in ihrem Leben gelernt hatte, sich hinter einer Maske der
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