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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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die den Betrachter wünschen ließ, einen tieferen Blick in diese verborgenen Gärten werfen zu können. Sie hörte im Vorbeigehen verschiedenste Dialekte und Sprachen. Unter anderen Umständen wäre sie nur zu gerne in ein paar der ungewöhnlichen kleinen Einkaufshallen gegangen. Aber heute besaß sie gerade noch genug Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen und zu hoffen, daß das Polizeirevier nicht mehr weit entfernt war. Selbst auf der schattigen Seite der Straße spürte sie durch ihre Schuhsohlen noch die Hitze des Tages auf den Gehsteigen.
    Schließlich sah sie eine ganze Reihe von Polizeiautos vor einem eleganten Herrenhaus stehen. Als sie nahe genug herangekommen war, erkannte sie das Schild auf einer der weißen Säulen: »New Orleans Police 8th District«. Das Gebäude war in einem komischen, fast lachsfarbenen Beigeton gestrichen, kunstvolle schwarze, schmiedeeiserne Gitter umfaßten das Haus samt dem tadellos gepflegten Grundstück. Es erinnerte sie beinahe an einen Schloßpark, in dem eine vornehme Dinnerparty gegeben werden könnte.
    Karen durchschritt das offene Eingangstor und stieg die breiten, niedrigen Stufen hinauf. Eine schwere Eingangstür führte in einen riesigen Saal mit blaugestrichenen Wänden, dessen Decke mindestens fünfzehn Meter hoch sein mußte, wie ihr schien. Es gab überall runde, lampionartige Lampen, sicher auch als Attraktion für die Touristen gedacht. Das Ganze wirkte fast wie ein Museum auf sie, und sie fragte sich, ob sie wohl am richtigen Ort gelandet war.
    Eine Polizistin saß hinter einem Schreibtisch, der auf einem Podest stand. Außer ihr schien niemand hier zu sein. Karen blickte zu ihr auf. »Arbeitet hier ein Detective Chastain?«
    »Ja, Ma’am. Ich werde gleich mal sehen, ob er da ist. Wie ist Ihr Name?«
    »Karen Whitlaw.«
    Die Beamtin sprach leise ins Telefon und wandte sich dann an Karen. »Er ist da und bittet Sie, in sein Büro zu kommen.« Sie wies in die entsprechende Richtung. »Gehen Sie rechts, es ist die dritte Tür auf der linken Seite.«
    Unter träge schwirrenden Deckenventilatoren ging Karen, den Angaben folgend, den Gang entlang. Nach der Hitze auf der Straße bekam sie bei dem Luftzug eine Gänsehaut auf den bloßen Armen. Sie war noch nie zuvor auf einem Polizeirevier gewesen. Irgendwie hatte sie so etwas wie ein heilloses Chaos erwartet, aber was sie fand, waren klingelnde Telefone, Leute, die auf Stühlen lümmelten, Zigarettenrauchwolken und der Geruch von starkem Kaffee. Sie hätte sich in jedem x-beliebigen Büro befinden können, mit vielbeschäftigten, ein wenig desorganisierten Angestellten, bloß daß die Angestellten hier alle Waffen trugen.
    Sie fand die bezeichnete Tür und klopfte. Die weiche, dunkle Stimme, an die sie sich gut erinnern konnte, sagte: »Herein.«
    Sie machte die Tür auf, und wieder krampfte sich ihr Magen zusammen, diesmal jedoch aus reiner Nervosität, während der Mann hinter dem Schreibtisch sich erhob. Detective Chastain war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Er war nicht in den Fünfzigern und hatte weder ein Bierbäuchlein noch eine Stirnglatze. Mitte Dreißig mußte er sein, schätzte sie. Er sah aus wie ein Mann, der schon zu viel erlebt hat, um sich noch durch irgend etwas überraschen zu lassen. Sein dickes schwarzes Haar trug er ultrakurz, und buschige schwarze Augenbrauen wölbten sich über schmalen, funkelnden Augen. Seine Haut war olivfarben, und man sah deutlich einen Nachmittagsbart. Er mußte etwa eins fünfundachtzig groß sein, breite Schultern, muskulöse Unterarme; er sah hart, ja gefährlich aus. Etwas an ihm machte ihr angst, und sie wäre am liebsten davongelaufen. Nur die jahrelange Disziplin, die sie sich als Krankenschwester angeeignet hatte, hielt sie davon ab.
    Marc erhob sich, als Karen Whitlaw sein Kabäuschen betrat. Wie alle guten Polizisten besaß er die Fähigkeit, Leute blitzschnell einzuschätzen, was er jetzt tat. Er betrachtete sie mit einem Blick, der nichts preisgab, aber jedes noch so kleine Detail an ihr registrierte. Falls der Tod ihres Vaters sie irgendwie mitnahm, so ließ sie sich jedenfalls nichts davon anmerken. Ihr Gesichtsausdruck sagte, daß sie das alles für einen Riesenmist hielt, es aber durchstehen und sich dann wieder ihrem eigenen Leben widmen würde.
    Zu schade, dachte er und studierte sie erneut, diesmal mit den Augen eines Mannes, nicht eines Polizeibeamten. Er hatte nicht viel übrig für kaltherzige Menschen, aber sie war eine

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