Vor Jahr und Tag
Polizeirevier im achten Distrikt in der Royal Street.«
»Sie wollen doch sicher nicht Ihr Gepäck auf ’nem Polizeirevier rumschleppen«, entgegnete er kopfschüttelnd. »Es gibt ’n paar Hotels an der Canal, bloß ’n paar Blocks vom Revier entfernt. Warum checken Sie nich erst dort ein und gehen dann zu Fuß zur Royal? Oder ich bring Sie zu ’nem Hotel direkt im Viertel, aber dort könnt’s schwer werden, ’n Zimmer zu kriegen, wenn Sie keine Reservierung habn.«
»Hab ich nicht«, entgegnete sie. Vielleicht waren ja alle Taxifahrer so hilfsbereit müden Reisenden gegenüber; sie wußte es nicht, da sie nie viel herumgekommen war. Aber er hatte recht; sie wollte gewiß nicht ihr Gepäck mit sich rumschleppen.
»Die größeren Hotels wie das Sheraton oder das Marriott haben eher Zimmer frei, sind aber auch ’n bißchen teurer.«
Karen war derart erledigt, daß ihr die Bequemlichkeit wichtiger war als die Kosten. »Das Marriott«, sagte sie. Sie konnte sich ein paar Nächte in einem guten Hotel schon leisten.
»Das ist bloß zwei Blocks von der Royal. Wennse aus dem Hotel rauskommen, gehn Se rechts. Wenn Se zur Royal kommen, gehn Se wieder rechts. Das Polizeirevier liegt ’n paar Blocks die Straße rauf, Sie können’s nich verfehlen.
Großes gelbes Gebäude mit dicken weißen Säulen davor und Streifenwagen vorm Gatter. Es taucht in all diesen Fernsehserien über New Orleans auf, sieht aus wie eins von diesen alten Herrenhäusern aus dem Süden. Ich nehm an, daß die Cops noch immer da arbeiten, weil die Karren ja noch davorstehen.«
Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, während sie dem melodiösen Singsang seiner Stimme lauschte. Wenn sie die nächsten paar Stunden heil überstand, würde sie früh zu Bett gehen und sich richtig ausschlafen, und morgen wäre sie dann wieder in Ordnung und nicht so unnatürlich empfindlich und nervös. Sie haßte dieses Gefühl. Sie war eine gesunde, tatkräftige, ruhige und kompetente junge Frau, der man auf ihrer Station den kühlsten Kopf nachsagte. Sie war kein Nervenbündel.
Noch bevor eine Stunde vergangen war, war sie in einem Zimmer mit einem riesigen Bett und einer herrlichen Aussicht über den Mississippi und das French Quarter untergebracht. Zu ihrer Enttäuschung wirkte das Viertel jedoch ziemlich heruntergekommen, zumindest von ihrer Warte im fünfzehnten Stock aus. Sie nahm sich nicht die Zeit zum Auspacken, erfrischte ihr Gesicht jedoch mit kaltem Wasser und kämmte ihr Haar. Sicher lag es an ihrer Müdigkeit, daß sie so blaß aussah, dachte sie, während sie ihr Spiegelbild über dem Waschbecken im Badezimmer anstarrte. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten im Vergleich zu ihren bleichen Wangen beinahe schwarz.
Nach der Wegbeschreibung des Taxifahrers schien es ein Kinderspiel zu sein, zum Polizeirevier zu gelangen, nicht mehr als fünf oder sechs Blocks und nicht der Mühe wert, ein Taxi zu nehmen. Der kurze Spaziergang würde ihr sicher helfen, ein wenig Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken zu bringen.
Fast hätte sie ihre Meinung geändert, was den Spaziergang betraf, als sie in die sengende Flitze hinaustrat. Die Nachmittagssonne brannte heiß auf sie nieder, und es herrschte eine derartig feuchte Schwüle, daß die Luft kaum einzuatmen war. Sie hätte am Ende doch noch ein Taxi genommen, wären da nicht all die Leute um sie herum gewesen, denen die Hitze überhaupt nichts auszumachen schien. Sie störte ein heißer Tag normalerweise auch nicht, denn in Ohio waren Temperaturen über dreißig Grad im Hochsommer nicht ungewöhnlich.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit. Vielleicht brütete sie ja was aus. Das würde erklären, warum sie sich gar so schlecht fühlte.
Aber selbst bei all dem Streß, unter dem sie stand, konnte sie sich von dem Moment an, als sie von der Canal nach rechts in die Royal Street bog, dem Charme des French Quarters nicht entziehen. Die Straßen waren eng und auf beiden Seiten mit parkenden Autos zugestellt. Die Gehsteige waren uneben und rissig, die Gebäude meist alt und ein wenig heruntergekommen. Aber die Türen waren in frischen, fröhlichen Farben gestrichen, Blumen blühten in Balkonkästen, und Farne und Palmen verwandelten die Balkone in kleine Gärten. Die Balkonbrüstungen waren aus kunstvoll gefertigtem schwarzem Schmiedeeisen, und auch die schmiedeeisernen Gatter vor den Hinterhöfen zogen die Blicke auf sich. Dahinter war dichte Vegetation zu erkennen,
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