Vor Jahr und Tag
hübsche Person. Mitte, Ende Zwanzig mit einem Gesicht, das gleichzeitig exotisch und typisch amerikanisch wirkte, klar geformt, aber mit leicht schrägstehenden Wangenknochen und faszinierenden, ein wenig tiefliegenden, dunklen Schlafzimmeraugen. Mehr als bloß hübsch, revidierte er seine Meinung. Sie war eine eher unauffällige Frau, ihr Außeres sprang einem nicht gleich ins Auge, aber sie war unbedingt einen zweiten Blick wert.
Und eine hübsche Figur besaß sie außerdem; mittelgroß, schlank, mit hohen, runden Brüsten, die beim Gehen kein bißchen gewackelt hatten. Das bedeutete, daß sie entweder sehr fest waren oder daß sie einen Killer-BH anhatte. Es wäre sicher interessant, das herauszufinden. Ein stetig ansteigender Druck in seiner Hose verriet ihm, daß er das sogar sehr gerne herausfinden würde. Er zuckte innerlich mit den Schultern. Das passierte eben manchmal, daß er starke sexuelle Regungen für eine Frau verspürte, die er nicht mal mochte. Meist ignorierte er diese Regungen, da der Preis gewöhnlich höher war als die Belohnung.
Er streckte die Hand aus. »Ich bin Detective Chastain.«
»Karen Whitlaw.« Ihre Stimme klang ein wenig heiser, war aber ebenso beherrscht wie ihr Gesichtsausdruck. Sie hatte kühle Finger, und ihre Hand fühlte sich zierlich an in der seinen, ihr Händedruck kurz und fest. Wunderschöne Hände hat sie, bemerkte er, mit langen, schlanken Fingern, die Nägel kurzgeschnitten und von perfektem Oval. Keine Ringe. Überhaupt kein Schmuck, einmal abgesehen von einer recht schmucklosen Armbanduhr und zwei kleinen goldenen Ohrsteckern. Miss Whitlaw war offenbar nicht der Typ, der sich gerne aufdonnerte, aber das hatte sie auch gar nicht nötig.
Ihr Haar war so dunkel wie ihre Augen. Sie trug es offen, und es reichte ihr bis zu den Schultern, wo es in einer weichen Innenrolle auslief. Alles schön ordentlich. Und kühl. Emotionslos.
Und genau das war es, was ihm nicht gefiel. Er hatte zwar kein Geschluchze erwartet, doch zeigten die Leute beim Tod eines Familienmitglieds gewöhnlich zumindest irgendein Anzeichen von Trauer oder Schock, wie kontrolliert auch immer, egal ob dieses Familienmitglied ihnen nun entfremdet war oder nicht. Meist floß doch die eine oder andere Träne wegen verpaßter Gelegenheiten, wenn vielleicht auch nicht aus ehrlichem Kummer. Bei dieser beherrschten Frau konnte er nichts davon bemerken.
»Nehmen Sie bitte Platz.« Er wies auf einen Stuhl, der einzige Stuhl in seinem Büro, außer seinem eigenen. Er hatte eine gerade, harte Lehne und lud nicht zum entspannten Verweilen ein.
Sie setzte sich, den Rock so zurechtgezogen, daß er ihr bis zur Mitte der Knie reichte. Sie behielt beide Füße auf dem Boden. So reglos saß sie da, daß sie ihn an eine Porzellanpuppe erinnerte. »Sie erwähnten am Telefon, daß mein Vater in einer wilden Schießerei ums Leben kam.«
»Nicht wild«, korrigierte er sie, setzte sich und schloß eine vor ihm liegende Akte. »Wer immer ihn auch umgebracht hat, tat es mit Absicht. Aber warum —« Er zuckte mit den Schultern. Es konnte alles sein, von Drogen bis zu einem Streit wegen eines Kartons zum Schlafen. Ohne Zeugen, ohne Mordwaffe, ohne irgendwelche Spuren war der Fall verloren, niemand würde weitere Mühe auf ihn verschwenden.
Sie saß einen Augenblick lang still da. Obwohl er eine Gefühlsregung, und wenn sie noch so gering war, respektiert hätte, war er doch froh, daß sie ihn nicht anschrie und verlangte, daß er den Mörder ihres Vaters fand, als ob sie sich wirklich darum scherte, was mit ihm passiert war. Marc spielte mit dem Gedanken zu überprüfen, ob sie durch den Tod ihres Vaters nicht vielleicht in den Genuß einer hohen Lebensversicherung kam. Diese Möglichkeit war gar nicht so weit hergeholt; Geld war nicht selten der Grund für einen Mord, obwohl es oft auch nur etwas so Simples wie der Streit um ein falsch gebratenes Steak sein konnte.
»Wie lange ist es her, daß Sie Ihren Vater zuletzt sahen oder von ihm gehört haben?«
»Jahre.« Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, preßte dann jedoch fest die Lippen zusammen und beließ es dabei.
»Gibt’s irgendwelche Lebensversicherungen auf seinen Namen?«
»Nicht daß ich wüßte.« Schockiert erkannte sie, was er damit andeuten wollte.
»Sie wußten nicht, wo oder wie er lebte?«
Karen spürte seine Feindseligkeit, obwohl sie seinem Gesicht, seinem sorgfältig verschleierten Blick nicht anzumerken war. Detective Marc Chastain konnte
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