Vor Jahr und Tag
Notaufnahme oder in der Chirurgie arbeiteten, kamen oft in Kontakt mit
Polizeibeamten, doch bis auf verschiedene Praktika, die sie während ihrer Ausbildung absolvieren mußte, hatte sie immer auf einer der Pflegestationen gearbeitet, so daß die Welt der Cops fremd für sie war. Ihre Gedanken wanderten ab, während sie den Unterhaltungen lauschte: Harte, grobe und doch seltsam mitfühlende Töne waren das. Cops und Krankenschwestern haben eine Menge gemeinsam, dachte sie schläfrig. Sie müssen sich gegen das Leid, mit dem sie tagtäglich in Kontakt kommen, schützen, aber dennoch ihr Mitgefühl für ihre Mitmenschen bewahren.
»Hier, bitte schön.«
Sie hatte ihn nicht zurückkommen gehört, doch auf einmal wurde eine eiskalte Dose in ihre Hand gedrückt. Sie öffnete die Augen und starrte ihn verständnislos an. Gewöhnlich trank sie entkoffeiniertes Cola Light, aber das hier war richtiges Cola, bis obenhin voll mit Zucker und Koffein.
»Na los, nun trinken Sie schon«, meinte er. Offenbar war das ein Befehl, keine Bitte, denn schon hob er ihre Hand und neigte die Dose an ihre Lippen.
Sie war gezwungen, wie ein hilfloses Kind zu trinken, was sie zornig machte. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, was ihn wiederum überhaupt nicht zu beeindrucken schien, denn er gab kein bißchen nach. Der reinste Felsblock, dieser Detective. Ihr schoß der Gedanke durch den Kopf, daß er seine wie immer gearteten Ziele wohl mit derselben Unnachgiebigkeit verfolgen würde. Also, sie beneidete die Kriminellen nicht, hinter denen Chastain her war.
Die Cola prickelte auf ihrer Zunge, scharf und süß und so kalt, daß sie sie bis in ihren Magen rinnen fühlen konnte. Er zwang ihr noch einen zweiten Schluck auf, bevor er der Meinung war, daß sie’s von nun an allein schaffte, doch selbst dann entfernte er sich nicht weiter als einen knappen halben Meter von ihr und lehnte sich an die Kante seines Schreibtisches. Er streckte seine langen, muskulösen Beine aus, die in leichten, olivfarbenen Baumwollhosen steckten. Seine in leichte sommerliche Lederschuhe gekleideten Füße waren nur noch wenige Zentimeter von ihren viel zierlicheren entfernt. Sie zog ihre Füße ein wenig zurück, seltsam verstört, und ihr Magen zog sich beinahe angstvoll zusammen, was einfach lächerlich war. Sie hatte keine Angst vor Chastain; trotz seiner Meinung über sie war sie ihm fast dankbar.
»Trinken Sie aus. Die Schwüle hier ist so ähnlich wie Höhenluft«, sagte er leichthin. »Beide können einen völlig unerwartet umhauen. Ich hatte einen Augenblick lang den Eindruck, Sie würden gleich ohnmächtig werden. Geht’s Ihnen jetzt besser?«
Ja, es ging ihr schon besser. Karen merkte, daß sie wirklich beinahe vor ihm umgekippt wäre. Sie war Krankenschwester; sie hätte die Anzeichen erkennen müssen. Dadurch, daß sie den ganzen Tag lang nichts gegessen hatte, hatte sie sich praktisch selbst dieses Bein gestellt, und die unerträgliche Schwüle hatte natürlich auch nicht geholfen. Jeder Faden, den sie am Leib trug, fühlte sich klamm an. Wie peinlich, wenn sie wirklich vor seinen Augen flach aufs Gesicht gefallen wäre.
Angesichts seiner kaum verhohlenen Abneigung ihr gegenüber fragte sie sich, warum er überhaupt eingeschritten war. Aber er erwies sich als aufmerksam und überraschend hilfsbereit, und wieder mußte sie daran denken, wie tröstlich sich sein starker Griff angefühlt hatte.
»Danke«, sagte sie und blickte zu ihm auf. Aus dieser Nähe erkannte sie zu ihrer Überraschung, daß seine Augen von hellem, leuchtendem Grau waren mit einem kohlschwarzen Ring um die Iris. Angesichts des schwarzen
Haars, der buschigen schwarzen Augenbrauen und dem Olivton seiner Haut hätte sie vermutet, daß seine Augen auch schwarz sein müßten. Vielleicht war sie ja beim Betreten seines Büros schon am Rande einer Ohnmacht gewesen, denn wie sollte sie sonst eine solch auffallende, leuchtende Farbe übersehen haben? Wieder zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen, und sie holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. »Wir können jetzt zur Leichenhalle fahren, wenn Sie wollen«, meinte sie.
Was immer auch in ihm vorgehen mochte, man konnte seinem unbeweglichen Gesicht nichts ansehen. »Sie müssen sich die Leiche nicht wirklich ansehen«, erklärte er. »In der Pathologie verwendet man heutzutage Videoaufnahmen zur Identifizierung. Das ist leichter für die Angehörigen.«
Offenbar glaubte er, daß ihr die Aussicht, in die Pathologie fahren und
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