Vor Jahr und Tag
sich gleichzeitig dabei, wie sie sich nach seiner Nähe sehnte.
»Gern geschehen.« Das war alles, was er dazu sagte.
»Und seine übrigen Sachen - sind bloß Kleidung?«
»Ja. Sie werden’s auf der Liste sehen.«
»Wenigstens weiß ich dann, welche Anzuggröße er braucht«, meinte sie, obwohl ihr ganz schlecht wurde bei dem Gedanken, seine schäbigen Anziehsachen nach Kragenetiketten durchgehen zu müssen. Das war einfach zuviel. Es ging über ihre Kräfte.
Detective Chastain schwieg einen Moment lang und blickte sie ruhig an. »Größe vierundvierzig, lang«, sagte er dann.
Sie schluckte und nickte, den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet. Sie mußte ihn etwas fragen, bloß um sicher zu sein, und obwohl sie wußte, daß die Antwort für einen Polizeibeamten schwer sein würde, war sie gleichzeitig sicher, daß er sie nicht anlügen würde. »Detective -«
»Was?« fragte er sanft, als sie auch Augenblicke später noch nichts gesagt hatte.
Da hob sie ihren Blick und sah ihm gerade in die Augen. »Sind - sind Sie noch mit dem Fall beschäftigt?«
Er schwieg. »Nein«, sagte er dann.
Karen zuckte zusammen, obwohl dies genau die Antwort war, die sie erwartet hatte. Wieder kam er um seinen Schreibtisch herum und ging vor ihr in die Hocke. Wieder ergriff er ihre Hand und rieb mit dem Daumen über ihre Fingerknöchel. Die Schwielen an seinem Daumen kratzten angenehm; eine typisch männliche Hand.
»Es tut mir leid«, murmelte er.
»Ich verstehe schon«, stieß sie mühsam hervor. »Sie müssen sich mit den Fällen beschäftigen, bei denen Sie etwas bewirken können. In der Notaufnahme eines Krankenhauses ist es nicht anders.«
»Das Leben kann verdammt hart sein.«
Sein direktes Mitgefühl und seine Ehrlichkeit bedeuteten ihr mehr, als wenn er Floskeln heruntergeleiert und sie mit gutgemeinten Lügen zu trösten versucht hätte. Sie drückte seine Hand und straffte die Schultern. »Ich hab heute eine Menge zu tun, also störe ich Sie jetzt nicht länger.«
Er trat zurück und machte ihr Platz, damit sie aufstehen konnte. »Danke«, sagte sie, als sie ging.
Marc seufzte, als Karen sein Büro bleich, aber gefaßt verließ. Eine Last lag schwer auf seiner Brust. Verdammt, ihr Vater war ermordet worden, und es gab nichts, was er unternehmen konnte. Sobald sie herausgefunden hatten, um wen es sich bei dem Toten handelte, hatte er Bescheid von oben erhalten, sich einem produktiveren Fall zuzuwenden. Es war nicht sehr gewinnbringend, den Mord an einem Obdachlosen aufklären zu wollen, ganz zu schweigen davon, daß er keinerlei Hinweise hatte. Das Ganze war so verflucht frustrierend.
Herrgott, wie gerne hätte er sie in die Arme genommen, sie einfach hochgehoben und sich auf den Schoß gesetzt, ihr gezeigt, daß sie das Ganze nicht allein durchstehen mußte. Aber das hatte er nicht, zum einen, weil’s zu früh gewesen wäre, und zum andern, weil sie dann ihre mühsam aufrechterhaltene Fassung verloren hätte.
Wahrscheinlich hatte sie sich schon als Kind immer ruhig und vernünftig verhalten, sich gezwungen, eine kleine Erwachsene zu sein, während sie doch sorglos und frei mit ihren Puppen und Schulkameradinnen hätte spielen, Seilhüpfen und so ein Zeug hätte machen sollen. Das war nichts Neues für ihn: Immer wieder beobachtete er, wie Kinder zu kleinen Erwachsenen wurden, wenn sie nur noch ein Elternteil besaßen und dieses Elternteil ums tägliche Brot kämpfen mußte. Dann übernahmen die Kinder Aufgaben und Verantwortung, die nicht altersgemäß waren. Sie hatte wahrscheinlich den Haushalt übernommen, hatte dafür gesorgt, daß auf ihre Mutter eine warme Mahlzeit wartete, wenn sie erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, hatte alles getan, um ihr ihre Bürde ein wenig zu erleichtern.
Karen hatte sich sogar zur Krankenschwester ausbilden lassen und noch mehr Verantwortung übernommen. Es verriet viel, daß ihre Mutter am Ende vollkommen auf sie angewiesen gewesen war, das hatte den Rollentausch komplett gemacht. Wahrscheinlich hatte sie ihre Mutter, zumindest zeitweise, bei ihrem richtigen Namen genannt und nicht »Mom«, denn das kleine Mädchen war die Mutter geworden und die Mutter das Kind, der Schützling. Es war offensichtlich, daß sie ihre Mutter über alles geliebt hatte und sie daher nur um so heftiger hatte beschützen wollen.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich um andere gekümmert, jetzt wollte er sich um sie kümmern, wollte es mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn
Weitere Kostenlose Bücher