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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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erschütterte. Er besaß von Natur aus einen starken Beschützerinstinkt, wenn es um Frauen ging, doch nie zuvor hatte er etwas Derartiges gefühlt. Etwas in ihm hatte sich abrupt und für immer gewandelt, und er konnte beim besten Willen nichts dagegen tun.
    Hatte sie überhaupt eine Ahnung, wie tapfer sie war? Ihr trockener Kommentar vom gestrigen Tag über die Oberflächlichkeit von Frauen, die sich aus Angst vor der Gefährlichkeit seines Berufs nicht mit einem Cop einlassen wollten, war amüsant gewesen, aber sie hatte es ehrlich gemeint. Karen Whitlaw würde nie vor einer Beziehung davonlaufen, nur weil sie Angst hatte; sie würde zu ihrem Mann stehen, in guten wie in schlechten Zeiten.
    Immer wenn er eine Beziehung eingegangen war, hatte er seine Arbeit rausgehalten. Daß er manchmal nachts zu einem Fall gerufen wurde, war unvermeidlich, aber er hatte die Einzelheiten immer draußen vor der Tür gelassen. Er hatte seine Frauen immer von der Häßlichkeit der Welt, die ihm da draußen begegnete, bewahren wollen, was zum Teil an seinem starken Beschützerinstinkt lag, aber auch daran, daß er nicht glaubte, sie könnten den Teil von ihm, der es ihm ermöglichte, die Dinge zu tun, zu denen er durch seinen Job gezwungen war, verstehen oder auch nur akzeptieren. Vielleicht hatte er die Frauen in seinem Leben ja unterschätzt, aber er hatte schon zu viele Beziehungen wegen des Jobs auseinanderbrechen sehen und das Risiko nie eingehen wollen.
    Bei Karen dagegen wußte er einfach, daß sie nicht zurückschrecken würde. Sie würde die Schultern straffen und das Kinn vorstrecken, so wie er es mehrmals bei ihr beobachtet hatte, wenn der Schmerz und der Druck, unter dem sie stand, sie zu überwältigen drohten. Die meisten Menschen wären unter der emotionalen Bürde, die sie zu tragen hatte, zusammengebrochen, aber sie stellte sich den Dingen, was immer auch kommen mochte, und hob sich ihre Tränen für später auf, wenn sie allein war.
    Er wußte, daß sie geweint hatte; ihre Augenlider waren geschwollen gewesen. Sie hatte geweint, und er war nicht dagewesen, um sie zu halten.
    Aber das werde ich, dachte er wild. Von jetzt an werde ich dasein.

9
    Der Himmel war bewölkt, es drohte jeden Moment zu regnen, und Hitze und Luftfeuchtigkeit waren derart unerträglich, daß Karen das Gefühl hatte, sich allmählich aufzulösen. Der Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten und rann an ihr hinunter. Sie trug ein dünnes, kurzärmeliges, aber schwarzes Kleid und meinte förmlich zu fühlen, wie die Farbe die Hitze anzog. Sie konzentrierte sich auf die Wehwehchen, die sie plagten, und auf das ferne Donnergrollen. Sie dachte, wie satt und grün das Gras doch war, lauschte dem Vogelkonzert und ärgerte sich, weil sie mit den hohen Absätzen dauernd in der weichen schwarzen Erde versank. Nie zuvor hatte sie eine solch schwarze, fruchtbare Erde gesehen, es kam ihr wie ein Wunder vor.
    Sie blickte hinauf zu den massigen Bäumen und hinab zu den Blumen. Dieser kleine Landfriedhof war hübscher und auch friedlicher als der riesige, manikürte »Garten der ewigen Ruhe«, wo Jeanette begraben lag. Vielleicht sollte sie ihre Mutter lieber hierher verlegen, statt Dexter nach Ohio bringen zu lassen.
    Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte wirklich
    versucht, nicht an das zu denken, was sich hier abspielte, aber wie unerzogene Kinder waren ihre Gedanken am Ende doch bei der Beerdigung gelandet. Sie wollte nicht an den Mann im Sarg denken. Dexter Whitlaw. Ihr Vater. Was immer er auch an Fehlern in seinem Leben gemacht hatte, von welchen Dämonen er auch geritten worden war, in diesem Augenblick gestand sie sich ein, daß nicht all ihre Erinnerungen an ihn schlecht waren.
    Sie konnte sich an ein paar Gelegenheiten erinnern, als sie beide auf dem Fußboden gesessen und zusammen mit Puppen gespielt hatten, er hatte ihr bewundernd zugehört, mit sorglos untergeschlagenen Beinen, als ob er sich seiner unbequemen Stellung überhaupt nicht bewußt wäre, während sie sich endlose Geschichten über die Puppen, und was sie gerade taten, ausdachte. Meistens waren sie krank, und sie mußte sie pflegen, ein früher Hinweis auf ihre späteren beruflichen Ambitionen. Ein paarmal hatte Dexter sie auf Wanderungen in die Wälder mitgenommen und ihr gezeigt, wie man sich im Gebüsch versteckte und vollkommen still saß, so daß selbst die Eichhörnchen und Vögel vergaßen, daß man da war. Sollten diese paar schönen Momente sie ein Leben voller

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