Vor Jahr und Tag
Gebäude gab, sie hatte einige davon gesehen, gestern auf dem Weg zur Leichenhalle, aber das Polizeirevier im achten Distrikt war wie New Orleans selbst: verführerisch, wundervoll altmodisch und wundervoll sündig. Was die alten Wände wohl alles gesehen haben mochten? Was für Skandale und Morde mochten sich unter diesem Dach abgespielt haben? Was für stürmische Liebesaffären? Normalerweise assoziierte man mit einem Polizeirevier keine Liebesaffären, aber hier war man in New Orleans, im Viertel, und da war alles möglich.
Heute saß eine andere Beamtin hinter dem großen Schreibtisch in der riesigen Eingangshalle, wo sich die Deckenventilatoren unablässig in der dicken Luft drehten. Karen nannte ihren Namen und wurde sofort durchgewinkt. Rasch schritt sie den langen Gang entlang über den alten, knarrenden Holzboden.
Detective Chastain war gerade am Telefon, als sie sein winziges, unordentliches Kabäuschen erreichte. Er blickte auf, als er sie in der offenen Bürotür stehen sah, und winkte sie herein.
Ihr Herz machte einen Satz und pochte dann aufgeregt weiter. Karen sank in den unbequemen Stuhl mit der geraden Lehne, die Handtasche auf ihrem Schoß fest umklammernd. Auf seinem Schreibtisch lag eine Papiertüte, eine ganz normale braune Tüte, wie man sie in Supermärk-ten bekam, und sie versuchte sie nicht anzusehen. Lieber schaute sie ihn an, verzweifelt konzentrierte sie sich auf sein Gesicht, auf Kleinigkeiten wie den Kontrast seiner goldenen Armbanduhr auf seinem gebräunten Handgelenk, auf die kurzen schwarzen Härchen auf seinen Unterarmen, die sichtbar waren, weil er die Hemdsärmel aufgerollt hatte. Er trug ein einfaches, kragenloses weißes Hemd und schwarze Hosen, schlicht, aber eindrucksvoll. Er sah darin eher aus wie ein Choreograph als ein Cop, wenn man von der Pistole einmal absah, die er in einem Gürtelhalfter an seiner rechten Hüfte trug.
Sie bemühte sich, nicht zu lauschen, merkte jedoch, daß er zunehmend ungehalten wurde. Er runzelte die Stirn und zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Dann warf er einen Blick auf sie und wechselte abrupt die Sprache. Ein Gewitter kreolischer Schimpfwörter ergoß sich über sie, und sie war froh, daß sie nicht Französisch sprach, denn daß er fluchte, hörte man deutlich.
Schließlich knurrte er noch etwas und knallte den Hörer auf die Gabel. Die grauen Augen zu Schlitzen verengt, drehte er sich in seinem Stuhl zu ihr herum und blickte sie direkt an. »Ich hoffe, Sie sprechen nicht Französisch.«
»Tu ich nicht«, beruhigte sie ihn.
»Ich kenne alle Schimpfwörter. Meistens reicht das.« Er fuhr sich mit der Hand über die kurzgeschorenen Haarstoppeln, eine Geste, die seine Irritation verriet. Er holte tief Luft und entspannte sich wieder. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee oder eine Cola?«
»Nein, danke.« Sie versuchte zu lächeln. »Ich hab gerade gegessen, also besteht keine Gefahr, daß ich vor Ihren Augen zusammenklappe. Heute müssen Sie mir keine Cola einflößen.«
»Unser Motto ist >diene und schütze<, also gehört das zu meinem Job.« Seine Augenwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln, das beinahe seinen Mund erreichte, doch es verschwand, als er auf die braune Papiertüte wies. »Normalerweise kümmere ich mich nicht selbst um solche Sachen, aber Sie haben da gestern etwas gesagt... Nun, ich glaube, das hier könnte Sie härter treffen, als Sie denken.«
Die Furcht, die ihr schon vorher kalt und zäh im Magen gelegen hatte, verstärkte sich. Ihre Hände krampften sich um ihre Handtasche. »Was soll das heißen?« Ihre Stimme klang ruhig, doch kostete es sie mehr und mehr Kraft, die Fassung zu bewahren.
Er schwieg einen Moment lang, erhob sich dann und kam um den Schreibtisch herum. Er lehnte sich an die Kante, so wie gestern. »Sie standen Ihrer Mutter ziemlich nahe, nicht wahr?«
Seine Frage traf sie vollkommen unvorbereitet. »Ja, natürlich. Als uns mein Vater verließ, war sie - vollkommen zerstört. Er hatte den Militärdienst quittiert, also blieb auch die monatliche Unterstützung aus. Sie mußte sich um mich kümmern, und sie hatte nie einen Beruf gelernt, also nahm sie jede Arbeit an, die sie finden konnte: als Putzfrau, Kellnerin, und Bügelwäsche nahm sie auch noch mit nach Hause.«
»Bei solchen Jobs verdient man nicht viel«, bemerkte er. Sein Blick ließ ihr Gesicht keinen Augenblick los.
»Allerdings nicht. Sie hatte immer zwei oder drei Jobs auf einmal, bis ich alt genug war, um mir eine Arbeit zu
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