Vor Jahr und Tag
erschauderte.
Sie sah, wie der Friedhofsleiter einen Blick auf Detective Chastain warf, als ob die endgültige Entscheidung bei ihm läge. Vielleicht war es ja auch so. Sie wußte nicht, ob sie die Kraft gehabt hätte, sich ihm zu widersetzen, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hätte, sie vom Grab zu entfernen. Und ein mündlicher Protest kam auch nicht in Frage, denn sonst würde sie ganz bestimmt ihre Fassung, die ohnehin nur noch an einem Faden hing, verlieren und wie ein schluchzendes Häuflein Elend zusammenbrechen. Und als schluchzendes Häuflein Elend besaß man nicht gerade viel Autorität.
Aber Chastain beantwortete den fragenden Blick mit einem knappen Kopfnicken, und sie versuchte ihm, ebenfalls mit den Augen, zu sagen, wie dankbar sie ihm war, nicht bloß dafür, sondern für alles, was er für sie getan hatte. Der Friedhofsleiter wandte sich mit ein paar leisen Worten an die wartenden Männer. Quietschend wurde der Sarg an den Ketten heruntergelassen.
Wieder überlief sie ein heftiger Schauder, und sie merkte, daß sie nicht mehr aufhören konnte zu zittern. War es die Kälte? Sie wußte es nicht, und es war ihr auch egal. Alles, was sie wußte, war, daß sie innerlich und äußerlich am ganzen Leib bebte und die Zähne zusammenbeißen mußte, um das aufsteigende Schluchzen, das sie zu ersticken drohte, nicht ausbrechen zu lassen.
Ohne ein Wort zu sagen, trat Chastain hinter sie und schützte sie so mit seinem Körper vor Wind und Regen. Sie stand stocksteif da, alle Muskeln angespannt, um nur ja nicht die Beherrschung zu verlieren. Er trat näher, so nahe, daß sie ihn nun dicht an ihrem Rücken spüren konnte, stark, solide und warm. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, öffnete er sein Anzugjackett und umfing sie schützend damit. Schultern, Arme, alles war jetzt von wohliger Wärme umschlossen. In der Linken hielt er noch den Schirm, doch sein rechter Arm umschlang sie und drückte sie fest an seinen harten, muskulösen Brustkorb.
Fassungslos registrierte sie, was er tat. Bis auf ihre Mutter hatte sich noch nie jemand zwischen sie und die Welt da draußen gestellt. Chastains Geste war unerwartet intim, die Geste eines Beschützers. Und das war es, was sie schließlich doch zusammenbrechen ließ, obwohl sie es gleichzeitig unendlich genoß.
Heiße Tränen schossen ihr in die Augen und ließen das Bild der über die Grube gebeugten Männer verschwimmen, doch konnte sie das Geräusch ihrer Schaufeln hören, mit denen sie das Grab zuschütteten. Sie arbeiteten methodisch, trotz der herunterstürzenden Regenfluten, als ob diese Arbeit zu ernst wäre, um sie zu unterbrechen. Sie stand da und wartete, bis sie fertig waren, während Chastain die ganze Zeit über hinter ihr blieb, sie wärmte und ihr seine Stärke lieh, so daß sie aufrecht stehen konnte.
Karen war es gewöhnt, allein zu stehen. Sogar als Kind hatte sie sich immer bemüht, ihre Mutter mit ihren Problemen zu verschonen, weil sie irgendwie gewußt hatte, daß Jeanette schon genug zu tragen hatte. Während der Ausbildung hatte sich diese Unabhängigkeit mit der zusätzlichen Verantwortung, die sie als Krankenschwester auf sich nahm, noch verstärkt. Seit langer Zeit hatte sie sich nicht mehr an jemanden angelehnt und mußte nun schockiert feststellen, daß sie sich sowohl physisch als auch emotional an einen Mann lehnte, der vor zwei Tagen noch ein Wildfremder für sie gewesen war. Heftig blinzelnd versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken. Sie wollte etwas sagen, aber der Druck, der auf ihrer Brust lastete, war zu groß, ihre Kehle vollkommen zugeschnürt. Sie richtete sich gerade auf, doch etwas in ihr schrie, seine Wärme und Stütze nicht aufzugeben. Sie drehte sich zu ihm herum, doch sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen, und auf einmal konnte sie das alles nicht länger ertragen.
Ein Schluchzer löste sich aus ihrer Kehle, der wie der Verzweiflungslaut eines verwundeten Tiers klang. Sie wußte nicht, ob sie auf ihn zukam oder ob er sie auffing, aber auf einmal waren seine Arme um sie geschlungen und ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben. Krampfhaft schluchzend klammerte sie sich an ihn, krallte ihre Finger in seinen Rücken.
Chastain ließ den Schirm auf die nasse Erde fallen. Er beugte den Kopf über sie und murmelte leise, sanfte Worte, die eigentlich keinen Sinn ergaben, aber die tröstenden Laute zu hören genügte schon. Zu ihrem Entsetzen merkte sie, wie sie sich noch enger an ihn kuschelte, und sie
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