Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
Vom Netzwerk:
Dunkelheit vergessen lassen? Sollte sie sich nur an die paar kurzen guten Zeiten erinnern und all die Nächte vergessen, in denen ihre Mutter sich die Augen ausgeweint hatte vor Sehnsucht nach einem Mann, der nie da war?
    Was für ein verschwendetes Leben, sowohl Jeanettes als auch Dexters. Wie weh das tat. Vorbei. Unabänderlich. Die aufsteigenden Gefühle drohten sie zu ersticken, aber vielleicht lag es ja gar nicht daran, sondern an dieser verdammten Schwüle, die einem den Atem nahm. Warum tat es so weh? Warum sollte sie um einen Mann weinen, der niemals einen zweiten Gedanken an sie verschwendet hatte, der immer nur angerufen hatte, wenn er etwas brauchte? Und dennoch: Er hatte seinen Ehering in seinen Hosensaum eingenäht, um ihn sicher zu bewahren. Es hatte ihm etwas bedeutet, wie Detective Chastain gesagt hatte. Ob es nun das Leben war, für das dieser Ring stand, das normale Leben, dem er den Rücken gekehrt hatte, oder die Menschen in diesem Leben, das wußte sie nicht.
    Nein, sie würde nicht um ihn weinen. Auf gar keinen Fall. Aber der Sarg war verschwommen, die Worte des Priesters nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch und der Druck, der auf ihrer Brust lastete, so groß, daß sie ihn kaum ertragen konnte.
    Die Bäume regten sich raschelnd und wispernd im aufkommenden Wind. Eine erstaunlich kühle Brise streifte ihre Waden und strich ihr über den Nacken. Sie erschauderte, doch es war ein erfrischendes Gefühl, und sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als der Schweiß auf ihrer Haut zu trocknen begann. Sie war froh um diese Erlösung von der mörderischen Hitze, auch wenn dem Wind ein leichter Nieselregen folgte.
    Doch schon nach wenigen Augenblicken fühlte sie sich nicht mehr erfrischt, sondern begann regelrecht zu frieren. Der Wind nahm zu, und der Regen begann unbarmherzig auf sie niederzuprasseln. Detective Chastain öffnete einen Regenschirm, trat näher und hielt ihn so, daß sie beide geschützt waren. Ich weiß nicht, was ich in den letzten zwei Tagen ohne seine Unterstützung gemacht hätte, überlegte sie wie betäubt. Er hatte mehr getan, als ihr zu erklären, was sie tun mußte, viel mehr; mehr als einmal war er vorgetreten und hatte die Dinge selbst in die Hand genommen, hatte Hindernisse aus dem Weg geräumt und Ärgernisse aus der Welt geschafft, bevor sie sich zu wirklichen Problemen ausweiten konnten. Ja, sogar an die Blumen für den
    Sarg hatte er gedacht und ihr geholfen, das Ganze zu arrangieren.
    Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum er das getan hatte. Sie war eine praktische Person mit gesundem Menschenverstand, doch allmählich glaubte sie, daß sie sich seine anfängliche Abneigung ihr gegenüber nur eingebildet hatte, denn nicht das kleinste Anzeichen von Feindseligkeit war seitdem bei ihm festzustellen gewesen. Vielleicht waren das ja Halluzinationen gewesen, die ihr die Müdigkeit, der Streß und die Erschöpfung vorgegaukelt hatten. Detective Chastain hatte weit mehr getan, als seine Pflicht gewesen wäre. Vielleicht war dies ja ein Beispiel für die Zuvorkommenheit der Südstaatler Frauen gegenüber, andererseits hatte er weit mehr gemacht, als die Tür für sie zu öffnen oder aufzustehen, wenn sie den Raum betrat.
    Ja genau, das ist es. Denk an den Detective oder an regionale Unterschiede im allgemeinen; denk an alles mögliche, bloß nicht daran, daß dir der Pfarrer jetzt die Hand drückt und dir murmelnd sein Beileid ausdrückt, daß der Begräbnisdirektor darauf wartet, daß du gehst, damit er den Sarg in die Grube runterlassen und Erde draufschaufeln lassen kann. Die Grube war sogar mit einer grünen Kunstrasendecke zugedeckt, um den trauernden Hinterbliebenen den Anblick des klaffenden Lochs zu ersparen.
    Aber sie konnte nicht gehen. Sie konnte Dexter jetzt nicht im Stich lassen, nicht in diesem letzten Moment, den er noch über der Erde verbrachte. Er verdiente es, daß jemand hierblieb, jemand, der sich an diesen Moment erinnern würde, so daß er nicht spurlos vorüberging. Wie viele Fehler er auch gehabt haben mochte, er war ihr Vater, mit dem sie für immer verbunden war durch die Gene, die sie von ihm geerbt hatte.
    »Machen Sie ruhig weiter«, krächzte sie. Das Sprechen fiel ihr schwer. Gänsehaut erschien auf ihren nackten Armen, und sie verschränkte sie, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. Wo war bloß die Hitze hin? Der Regen trommelte auf den Schirm, klatschte ihr an die Beine und den Rücken, und sie

Weitere Kostenlose Bücher