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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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suchen und zum Unterhalt beizutragen. An dem Tag, an dem ich vom Krankenhaus angestellt wurde, hat sie aufgehört zu arbeiten. All die Jahre hatte sie sich bis zur Erschöpfung aufgerieben, und es war Zeit, daß ich mich jetzt um sie kümmerte.«
    Er betrachtete sie einen Augenblick lang schweigend, mit rätselhaftem Gesichtsausdruck. »Nicht viele Menschen würden so handeln«, sagte er schließlich.
    »Dann stimmt was nicht mit ihnen«, brauste Karen auf. Sie hätte alles getan, was in ihrer Macht stand, um ihrer Mutter das Leben ein wenig zu erleichtern.
    Er hielt beschwichtigend die Hand hoch. »Ich bin ja Ihrer Meinung.«
    »Warum fragen Sie? Was hat meine Mutter damit zu tun, daß Sie mir die Habseligkeiten meines Vaters aushändigen?«
    Er schwieg unschlüssig. »Er hat etwas behalten, das ihm wichtig war. Er hätte es versetzen können, doch es war statt dessen in den Saum seines Hosenbeins eingenäht.«
    Verständnislos starrte sie zu ihm auf. Was um alles in der Welt konnte so wichtig für ihn gewesen sein? Seine Frau und seine Tochter bestimmt nicht.
    Detective Chastain langte hinter sich und zog einen kleinen braunen Umschlag aus der Tüte mit den Habseligkeiten ihres Vaters. Er öffnete ihn und schüttete den Inhalt auf seine Handfläche. »Er hat ihm etwas bedeutet«, sagte er leise, ging vor ihr in die Hocke und öffnete seine Hand, damit sie sehen konnte, was darin lag.
    Karen starrte den Goldring auf der schwieligen Handfläche des Detectives an. Einen Moment lang war sie sich nicht im klaren darüber, worum es sich handelte, doch dann traf es sie wie ein Schlag. Wie betäubt starrte sie das Ding an, und ihr war, als hätte sich ihr Geist irgendwie von ihrem Körper getrennt, als hätte die Realität mit einem Schlag ein ganz anderes Gesicht bekommen. Sein Ehering. Er hatte seinen Ehering behalten. Diese simple Tatsache änderte alles, was sie bisher glaubte über ihren Vater gewußt zu haben. »Das ist nicht fair«, flüsterte sie und meinte damit nicht das, was Detective Chastain gesagt hatte, sondern die vollkommen unerwartete Sentimentalität ihres Vaters. Das wollte sie nicht von ihm wissen; sie wollte gar nicht wissen, daß er vielleicht doch Reue empfunden, daß er gelitten, seinen unerfüllten Träumen nachgetrauert hatte. Es war leichter, ihn einfach als gefühllos hinzustellen.
    Aber was ist je einfach. Der Tod nicht und ganz gewiß nicht das Leben.
    Chastain sagte nichts, hockte nur vor ihr, und der Ring lag auf seiner Handfläche wie eine Opfergabe.
    Was wäre geschehen, wenn er nicht dagewesen wäre? Sicher gab es eine Liste von Dexters Habseligkeiten, und sie hätte eine Quittung unterschrieben, die besagte, daß sie ihr alle ausgehändigt worden waren, aber sie hätte nie erfahren, daß ihr Vater den Ring in sein Hosenbein eingenäht gehabt hatte, damit er sicher aufbewahrt war. Der überarbeitete Gerichtsmediziner hätte die Aufgabe nicht persönlich übernommen, sondern irgendein Polizeibeamter, und sie hätte es nie erfahren. Detective Chastain hatte sich extra die Mühe gemacht, so wie er sich auch gestern extra die Mühe gemacht hatte.
    Sie ertappte sich dabei, wie sie gegen ihren Willen die Hand ausstreckte, fast so, als ob sie nicht zu ihrem Körper gehören würde. Ihre Finger zitterten. Behutsam berührte sie den Ring, zeichnete langsam mit einer Fingerspitze seine Form nach, zog die Hand dann zurück und legte sie wieder in den Schoß.
    Detective Chastain nahm ihre Hand sanft in die seine, öffnete ihre Handfläche, legte den Ring hinein und schloß dann ihre Finger darüber. Der Ring war warm, seine Hand noch wärmer. »Es hat ihm etwas an euch gelegen«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum er ging, aber er hat nicht aufgehört, an euch zu denken.«
    Sie blickte nicht zu ihm auf. Statt dessen starrte sie auf ihrer beider Hände, seine schwielig, stark und gebräunt und viel größer als die ihren. Sein Griff jedoch, mit dem er ihre Hand umfaßte, war sanft, als ob er sich seiner eigenen Kraft bewußt wäre, was nicht bei vielen Männern der Fall war, und ihr nicht unabsichtlich weh tun wollte.
    Karen rang verzweifelt um Fassung, aber seine Nähe und sein Verständnis raubten ihr ihre Beherrschung. Und auch das schien er zu verstehen, denn er ließ ihre Hand los, erhob sich und ging wieder zu seinem Platz hinter dem Schreibtisch zurück.
    »Vielen Dank«, hauchte sie beinahe unhörbar. Daß er ihr nicht mehr so nahe war, war ihr eine enorme Erleichterung, doch ertappte sie

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