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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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wie ein schwerer, kalter Brei dort ausbreitete. Dexters Sachen waren wahrscheinlich alt und schäbig, die Kleidung abgetragen, die Schuhe voller Löcher. Diese Vorstellung war ihr beinahe unerträglich, daß er ohne Unterkunft und ausreichende Kleidung, ohne ein Bett zum Schlafen ziellos herumgestreunt war. Sie hatte sich immer vorgestellt, daß er ein sorgloses Leben führen würde, ohne die Verantwor-tung für Frau und Kind; auf diesen Gedanken wäre sie in einer Million Jahre nicht gekommen.
    Es tat weh. O Gott, tat das weh. Er hätte ein ganz normales Leben führen können, zusammen mit seiner Familie, doch das hatte er nicht gewollt, hatte sie nicht gewollt. Was er gewollt und gehabt hatte, war... nichts. Kein Zuhause, kein Job, als Bett ein großer Karton, den irgend jemand weggeworfen hatte, Essen in kirchlichen Einrichtungen oder Suppenküchen oder aus Mülltonnen, wenn es nicht anders ging. Ob er auch einen Einkaufswagen aus einem Supermarkt gestohlen und seine ärmlichen Habseligkeiten darin herumkutschiert hatte? Und dafür hatte er ihnen den Rücken gekehrt?
    Wie konnte ein Mensch so etwas tun? Sie waren doch seine Familie gewesen; hatte er denn gar nichts für sie empfunden, eine Art Verantwortungsgefühl vielleicht? Wie konnte er ihrer Mutter das antun und dann auch noch die Frechheit besitzen, anzurufen oder aufzutauchen, wann immer es ihm paßte? Was hatte er bloß an sich, daß Jeanette ihn bis zu ihrem letzten Atemzug geliebt hatte?
    »Ach, Mom«, flüsterte Karen kummervoll. Ihre Mutter tat ihr am meisten leid, denn ihr Schmerz war am größten gewesen. Sie selbst hatte ihren Vater nicht so gut gekannt und deshalb auch hauptsächlich um ihrer Mutter willen gelitten, nicht um ihrer selbst willen. Sie war froh, daß Jeanette dieses Videoband nicht hatte sehen müssen, daß nicht sie einen jämmerlichen Haufen Habseligkeiten einsammeln mußte.
    Sie hatte sich gerade ein leichtes, gerade geschnittenes ärmelloses, apricotfarbenes Sommerkleid und Sandalen angezogen, als der Zimmerservice das Frühstück brachte. Der Appetit war ihr natürlich vergangen, aber sie zwang sich, etwas zu essen. Der Kaffee war brühheiß und abscheulich stark; nach einem kleinen Schlückchen schob sie ihn angewidert beiseite und hielt sich statt dessen an das Glas mit Eiswasser. Vielleicht war die Hitze ja erträglicher, wenn sie sich zuvor innerlich ein wenig abkühlte.
    Nun, wenigstens hatte Dexter nicht gefroren. Wenigstens war er nicht irgendwo in der Eiseskälte und im Schnee gestorben, mit Löchern in den Schuhen und Zeitungspapier ins Hemd gestopft zum Schutz vor der Kälte.
    Übelkeit befiel sie, und sie schob den Gedanken eilig beiseite, ebenso wie das Essenstablett. Rasch putzte sie sich die Zähne, trug etwas Lippenstift auf und steckte die Zimmerschlüssel ins Reißverschlußfach ihrer Handtasche. »Bereit«, murmelte sie und verließ das Zimmer.
    Der Morgen war heiß und frisch. New Orleans war eine Stadt für Gourmets, und eine Vielzahl von Düften lag in der Luft: frische Brötchen, heiße Gewürze, das bittere Aroma von starkem Kaffee. Danach roch es besonders intensiv, als sie an Brennans vorbeikam, das für sein exotisches Frühstücksbuffet berühmt war. Alles war hier so anders, als sie es von Columbus, Ohio, gewohnt war, daß sie sich vorkam wie in einem fremden Land. Sogar die Menschen sahen anders aus, exotischer und dunkler, fast wie Zigeuner, und auch ihre Kleidung war viel bunter und phantasievoller. Viele unterschiedliche Dialekte und Sprachen drangen an ihr Ohr, während sie rasch an dahinschlendernden Touristen und Einkaufsbummlern vorbeieilte. In den Schaufenstern hingen funkelnde Paillettenmasken und schöne, mit bunten Bändern verzierte Harlekinmasken. Aus einem der Schaufenster starrte ihr ein riesiger, aus einem einzigen Holzblock geschnitzter Leopard entgegen.
    Die Atmosphäre von New Orleans umfing sie wie die Arme eines Liebhabers, wollte sie aufhalten, zum Verweilen bewegen. Der Schweiß rann ihr zwischen den Brüsten herunter, ein unmißverständlicher Hinweis, wie dumm es von ihr war, sich so zu eilen. Nichts lief ihr davon, keinem würde es weh tun, wenn sie kurz stehenblieb, um sich ein Schaufenster anzusehen. Doch sie widerstand dem Drang.
    Sie konnte das Polizeirevier auf der rechten Seite liegen sehen, das wunderschöne, anmutige alte Gemäuer, das sie mit seiner Verheißung von herrlicher Kühle wie magisch anzog. Sie wußte, daß es in der Stadt auch ganz normale städtische

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