Vor Jahr und Tag
verachtete sich für ihre Schwäche, besaß jedoch einfach nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Eine große Hand umfing ihren Nacken und massierte die zarte, sensible Haut.
Schmerz und Kummer waren fast größer, als sie ertragen konnte, und außerdem erfüllte sie ein Gefühl tiefster Einsamkeit. Trotz ihrer tiefverwurzelten Abneigung Dexter gegenüber hatte sie, während er noch lebte, zumindest immer die Hoffnung haben können, daß er seine Probleme eines Tages lösen, die Dämonen, von denen er besessen war, abschütteln und eine Beziehung zu ihr aufbauen würde. Doch jetzt war er gestorben, ohne daß sie ihn je richtig kennengelernt hatte, und all ihre Hoffnungen waren
mit einemmal zunichte. Dieser verlorenen Hoffnung trauerte sie ebenso nach wie dem Vater, den sie nie richtig gekannt, dessen Abwesenheit aber ihr Leben bestimmt hatte. Jetzt würde sie ihm nie mehr sagen können, wie wütend sie auf ihn war, wie sehr er sie verletzt hatte, sie würde ihm nie die Hand reichen und die Verbundenheit mit ihm, der ja ein Familienmitglied war, spüren können.
Solch extreme Emotionen waren anstrengend, und sie beruhigte sich allmählich, ohne daß Detective Chastain seine Umarmung löste, und auch ihr tränennasses Gesicht blieb weiter an seiner Schulter vergraben. Sie hörte ihn leise etwas zu dem Pfarrer sagen, und kurz darauf entfernten sich Schritte mit einem leicht schmatzenden Geräusch über die feuchte Erde. Sie waren allein, und jetzt gab es noch etwas, wofür sie ihm dankbar war: Daß er ihr ein wenig Privatsphäre verschafft hatte, denn sie hätte im Augenblick niemandem ins Gesicht sehen können.
Das Regengeprassel hatte nachgelassen, der Sturm war weitergezogen, und nun umgab sie ein feiner, lauwarmer Nieselregen. Der Wind hatte sich ebenfalls gelegt, und schon konnte sie fühlen, wie es wieder schwül wurde. Dampf stieg träge von der nassen Erde auf. Sie konnte sein Herz ruhig und regelmäßig unter ihrer Wange schlagen hören und fühlen, wie sich sein Brustkorb rhythmisch mit seinem Atem hob und senkte. Der warme, leicht moschusartige Geruch seines Körpers vermischte sich mit dem frischen, zitronigen Duft seines Aftershaves. Er riecht wunderbar, dachte sie dumpf, genau, wie ein Mann riechen soll.
Ihre Gedanken wanderten ab. Sie überlegte, wann sie einem Mann das letzte Mal so nahe gewesen war, aber es fiel ihr nicht ein, und irgendwie glaubte sie nicht, daß sie je zuvor eine solche Nähe verspürt hatte. Natürlich war sie schon von Männern umarmt worden, aber nie auf diese'
Weise. Nie zuvor hatte sie sich von einem Mann trösten lassen, hatte nie vor einem ihrer wenigen festen Freunde geweint. Nie hatte sie zugelassen, daß sie sie brauchte, doch in diesem Moment, sie wußte nicht, wie es geschehen war, brauchte sie Chastain. Sie brauchte seine Arme, wenn auch bloß für diesen Augenblick. Sie brauchte die Kraft und Stärke, die sein hochgewachsener, muskulöser Körper verströmte, der mühelos ihr Gewicht aufzufangen schien, und sie brauchte seine Arme, die so eng um sie geschlungen waren: Genau so wollte sie gehalten werden, fest und unerschütterlich. Sie brauchte seine tiefe, honigwarme Stimme, die tröstend auf sie einsprach, brauchte die Gewißheit, daß sie jetzt, in diesem Augenblick zumindest, nicht allein war.
Sie war fix und fertig, vollkommen ausgelaugt und irgendwie entrückt; alles fühlte sich so unwirklich an. »Es tut mir leid«, stammelte sie in sein Hemd. Noch immer konnte sie sich nicht von ihm lösen.
»Aber wieso denn.« Er regte sich, hielt sie mit dem einen Arm fest, während er mit der anderen Hand in seine Jackentasche griff. »Hier haben Sie ein Taschentuch.«
Sie tastete blind danach, ohne den Kopf von seiner Schulter zu heben, wischte sich die Augen und das Gesicht ab und schneuzte sich kräftig. Dann fiel ihr verlegen ein, daß sie ihm das Taschentuch, nun, da sie es benutzt hatte, schlecht zurückgeben konnte. Es in der Hand zusammenknüllend, brummelte sie: »Ich werd’s waschen.«
Er lachte leise und schlang dann wieder beide Arme um sie. Sie legte seufzend den Kopf an seine Schulter zurück, wo sie sein feuchtes Jackett unter der Wange fühlte. In den Bäumen rings um sie herum begannen die Vögel wieder zu zwitschern und zu trällern.
»Ich habe ihn nie wirklich gekannt«, flüsterte sie, weil sie das Gefühl hatte, etwas erklären zu müssen. »Er ist alle paar Jahre bei uns aufgetaucht, und Mom hoffte dann immer, daß er diesmal vielleicht
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