Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
Vom Netzwerk:
bleiben würde, doch er verschwand wieder, und sie weinte danach tagelang. Dafür habe ich ihn gehaßt.«
    Seine starken Arme umfingen sie fester und drückten sie tröstend. »Wollten Sie denn, daß er bleibt?«
    »Zuerst schon. Jedesmal, wenn er wiederkam, bin ich in mein Zimmer gerannt und hab inbrünstig gebetet, daß er nicht wieder fortgeht und daß Mom glücklich ist und nicht mehr weint. Das hat nie lang vorgehalten. Dann hab ich angefangen, es mir zu wünschen. Immer wenn ich eine Sternschnuppe vom Himmel fallen sah, hab ich’s mir gewünscht, und ich hab in jeden Brunnen, in jeden Teich, der mir in den Weg kam, Pennies geworfen. In unserer Gegend gab es meines Wissens keinen richtigen Wunschbrunnen, aber das machte mir nichts aus. Ein gewöhnlicher Teich tat’s auch, fand ich.«
    Wieder mußte er leise lachen, und sie ertappte sich dabei, wie auch über ihr Gesicht, das noch in sein Jackett vergraben war, ein Lächeln huschte, ein wenig zittrig zwar, aber immerhin. Er schaukelte sie ein wenig hin und her, als ob sie ein Kind wäre. »Geht’s besser?«
    Sie nickte. »Wenn man weint, werden Endorphine in den Körper ausgeschüttet, was die Stimmung automatisch hebt.«
    »Dann müssen Sie ja bis zum Halskragen voller Endorphine sein«, neckte er sie, und diesmal lachte sie laut auf. Entsetzt erstarrte sie. Wie konnte sie lachen, wenn sie am Grab ihres Vaters stand?
    »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, meinte er und schüttelte sie ein wenig. Er verstand, auch ohne daß sie etwas sagte, warum sie plötzlich in seinen Armen erstarrt war. »Die Leute lachen immer auf Beerdigungen, sogar die
    Familienangehörigen. Meine Großmutter hat immer gesagt, daß das die Engel machen, um unsere Bürde zu erleichtern. Es ist nicht respektlos, es ist heilsam.«
    Er hatte recht. Sie mußte an andere Beerdigungen denken, an denen sie teilgenommen hatte, und wie es jedesmal einige gab, die mühsam das Lachen hatten unterdrücken müssen. Sie entspannte sich wieder. »Als ich ungefähr elf war, fuhren wir nach West-Virginia zurück, zur Beerdigung meines Großvaters - väterlicherseits -, und ich erinnere mich noch, wie Granny in ihrem Schaukelstuhl saß, ein kleines Spitzentaschentuch in ihrer Hand, all ihre alten Freunde und Bekannten um sich herum, und wie sie plötzlich über irgendwas zu lachen anfingen. Zuerst haben sie noch versucht, sich zu beherrschen, aber dann fing Granny tatsächlich an, aus vollem Halse zu lachen, geschüttelt hat sie sich und den Bauch gehalten und gejodelt, bis ihr fast die Luft wegblieb. Alle haben gebrüllt wie die Irren.«
    »Es hilft, sich an die guten Zeiten zu erinnern. Dann stammen Sie also aus West-Virginia? Dacht’ ich’s mir doch, daß da ein wenig die Südstaaten aus diesem properen Ohio-Dialekt hervorblitzen.« Er imitierte sie, indem er »Oh-Hai-uh« sagte statt »Oh-Hai-oh«, wie in den Südstaaten üblich. Noch während er sprach, befreite er sich dezent aus ihrem Würgegriff, sie jedoch nicht aus dem seinen. Er trat an ihre Seite und setzte sie in Bewegung, indem er ganz einfach losging, wobei er einen Arm um ihre Taille geschlungen hielt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzugehen, wenn sie sich nicht zerren lassen wollte.
    Karen wollte ihr Gesicht noch nicht zeigen. Sie wußte, daß ihre Lider geschwollen, ihre Nase rot und ihr Make-up ruiniert sein mußten. Sie konnte nur hoffen, das Schlimmste abgewischt zu haben. Aber Detective Chastain hatte offenbar entschieden, daß es Zeit für sie war zu gehen, also ging sie wohl oder übel. Vielleicht hatte er ja zu tun und mußte nach New Orleans zurück. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, wie sehr sie seine Zeit in Anspruch genommen hatte.
    »Halte ich Sie von was ab?« erkundigte sie sich verlegen. Er hatte ihr zwar seine Hilfe angeboten, aber vielleicht wollte er ja bloß höflich sein und hatte nicht wirklich erwartet, daß sie annahm.
    »Nein, natürlich nicht.« Er drückte sie ein wenig, während sie den schmalen Kiesweg erreichten, der zum Parkplatz führte, wo sein Wagen stand. »Ich bin außer Dienst und hab auch keine Termine.«
    »Und keine Verabredungen?« Allein der Gedanke mißfiel ihr. Sie war erstaunt über sich selbst. War sie schon so hilflos geworden, daß sie ohne ihn nicht mehr auskam? Das gewöhnte sie sich am besten ganz schnell wieder ab, denn morgen früh flog sie heim.
    »Keine Verabredungen«, erwiderte er leichthin. »Warum gehen wir nicht ein bißchen bummeln ins

Weitere Kostenlose Bücher