Vor Jahr und Tag
rang erschrocken nach Luft und duckte sich.
Er lachte. »Sorry. Wenn man oft genug hier reinfährt, lernt man, das Ganze bis auf den Millimeter zu berechnen.« Er schaltete den Motor ab, stieg aus und ging um den Wagen herum auf ihre Seite. Karen kam sich komisch vor, einfach sitzenzubleiben und zu warten, bis er die Tür für sie aufmachte, aber sie wartete dennoch. Es nahm ja nur wenige Sekunden in Anspruch, und er schien es von ihr zu erwarten. Er machte die Tür auf, und sie stieg aus. Dann legte er ihr wieder die Hand an den unteren Rücken, ein sanfter, warmer Druck, und führte sie so zu einer Treppe. Oben schloß er eine Holztür auf, die sich nach außen hin öffnete, und drängte sie durchzugehen.
Sie trat hinaus auf eine breite Balkonbrüstung, die um einen geräumigen, herrlich bepflanzten Innenhof herumlief. Ein alter Steinbrunnen stand dort unten in der Mitte, und darum herum gruppierten sich alle möglichen Blumen und Topfpflanzen. Riesige, saftig grüne Farne gab es da und hochgewachsene Palmen mit weit ausholenden Wedeln; Rosen und Geranien wuchsen in Hülle und Fülle, und andere Blumen, die sie nicht kannte, erfüllten die Luft mit ihrem herrlichen Duft. Sie war sicher, daß auch Jasmin darunter war, obwohl sie die kleinen, sternförmigen weißen Blüten nirgends entdecken konnte. Vollkommen verzaubert trat sie einen Schritt vor und stützte die Hände auf die schmiedeeiserne Balkonbrüstung. Es war einfach überwältigend. Sie entdeckte eine Steinbank, versteckt in dem Pflanzendschungel, und fragte sich, ob er sich in diesem Zaubergarten von den Anstrengungen seines Jobs erholte.
»Es ist wunderschön.« Tief sog sie den betörenden Duft der Pflanzen ein.
»Danke. Eine der Mieterinnen versorgt diesen Dschungel hier, und ich laß ihr dafür ein bißchen was von der Miete nach. Der Hof ist ganz schön, aber wenn Mrs. Fox nicht wäre, dann würde es hier nur Steine und Unkraut geben.«
»Gott segne Mrs. Fox, würde ich sagen«, kommentierte Karen, die sich kaum von dem kleinen Paradies losreißen konnte.
»Amen.« Er schloß, während er noch sprach, eine Türe auf, öffnete sie nach innen und streckte die Hand nach ihr aus. Sie verließ zögernd die Balkonbrüstung, und als sie seine Wohnung betrat, hatte sie das Gefühl, das zwanzigste Jahrhundert hinter sich zu lassen. Dieses Haus stammte aus einem anderen Zeitalter, aus einer anderen Welt. Die stuckverzierten Zimmerdecken waren mindestens dreieinhalb Meter hoch und die Möbel antik, aber nicht die Art von Antiquitäten, die in Vitrinen verstaubt; er lebte hier, das war offensichtlich. Der ausgebleichte Teppich war noch immer dick und herrlich weich und dämpfte jedes Geräusch. Das einzig Moderne in dem Raum war ein großer, bequemer Fernsehsessel, groß genug, um dem Hünen an ihrer Seite Bequemlichkeit zu bieten.
Sie wollte schon fragen, wie er sich eine solche Wohnung mit seinem Polizistengehalt leisten konnte, verkniff es sich dann jedoch, weil die Frage unhöflich gewesen wäre.
»Ich hab das Haus von meiner Großmutter geerbt«, erklärte er, während er sie dabei beobachtete, wie sie sich umsah. »Auf dem Speicher stehen jede Menge Möbel rum, alle über zweihundert Jahre alt. Die Polster verrotten natürlich, aber um das Holz kümmere ich mich, und ich lasse das eine oder andere Stück immer mal wieder aufpolstern.«
»Es muß wundervoll sein, in so einem Haus zu wohnen.«
»Ich bin hier aufgewachsen, also ist’s für mich eigentlich nichts Besonderes, aber es stimmt, es ist wundervoll.« Wieder streckte er den Arm aus und bat sie auf diese Weise weiterzugehen. »Hier lang.« Er führte sie durch ein schmales Eßzimmerchen in die Küche und dann durch eine zweiflügelige Tür auf den Balkon, der diesmal zur Straße hinauswies. »Setzen Sie sich doch«, lud er sie ein. »Ich hole uns was zu trinken. Haben Sie Hunger?«
»Nein, ich -«
»Ich wette, Sie haben noch nichts zu Mittag gegessen«, sagte er mit schmaler werdenden Augen. »Das stimmt doch, oder?«
»Ja«, gestand sie.
»Sie sind doch Krankenschwester«, erklärte er streng. »Sie sollten’s wirklich besser wissen. Hinsetzen.«
Karen setzte sich. Er ging nach drinnen, und sie lehnte sich auf den Sitzpolstern des schmiedeeisernen Balkonstuhls zurück und beobachtete das Gewimmel auf der Straße unten mit einer Art entrückter Neugier. Sie war müde und ausgelaugt und immer noch wie betäubt. Hier zu sitzen und auf die Straße hinunterzusehen war alles, was sie
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