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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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hinunter, wie sie im Dreck lag und warf voller Frust meine Gabel hinterher.
    Wir hatten keine Zeit mehr, zurück zum Imbissstand zu gehen, bevor das Feuerwerk begann. Wir standen ganz vorne. Als die erste Feuerwerksrakete mit einem großen Knall am Himmel explodierte, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich wünschte mir diese Kartoffel so sehr. Emily sah mich an; ich spürte ihren Blick. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war irgendein blöder Kommentar von ihr. Ohne ein Wort gab sie mir ihre Kartoffel.
    Ich nahm sie und spürte die Wärme an meinen Fingern. Sie reichte mir ihre Gabel. Ich sah Emily nicht an. Ich aß die ganze Kartoffel und sagte nicht einmal danke.

    Ich sollte Lynda erklären, dass ich keine Hilfe brauche und aufhören, zu unseren Terminen zu gehen. Sie meinte, meine Gedanken aufzuschreiben, würde mir helfen. Aber ich fühle mich im Moment ganz furchtbar. Schlimmer als je zuvor.

Freitag, 10. März
    Heute Abend sah ich Mum in Emilys Zimmer gehen und die Tür hinter sich schließen. Ich fühlte mich so einsam und vergessen wie eine leere Plastiktüte. Es dauerte ewig, bis ich wieder gleichmäßig atmen konnte.

Samstag, 11. März
    Ich ging mit zu Rosa-Leigh nach Hause. Als wir ankamen, machte ihre Stiefmutter uns eine Tasse Tee und wir unterhielten uns ein paar Minuten mit ihr. Andrew war bei einem Freund zum Spielen, also musste sie nicht ständig hinter ihm herlaufen.
    Sie sagte: »Ich erinnere mich, als ich in eurem Alter war und es sich anfühlte, als ob mir die ganze Welt offen stände. Es war …« Ihr Handy klingelte, so dass sie den Satz nicht mehr beendete.
    Wenn genug Zeit gewesen wäre, hätte ich ihr geantwortet, dass die Welt ganz und gar nicht offen stand, sondern sich eher schloss wie eine Blume, wenn die Sonne untergeht. Ich hätte gesagt, dass die Welt sich manchmal völlig geschlossen anfühlt, genau wie die Tür zu Emilys Zimmer.
    Rosa-Leigh stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen und sagte: »Mach nicht so ein Gesicht.«
    »Entschuldige«, sagte ich.
    »Komm und hilf mir beim Auspacken.«
    »Du hast noch nicht mal alles ausgepackt? Du bist doch nun schon ein paar Monate hier!«
    »Ja, ja.«
    Wir liefen hoch zu ihrem Zimmer unter dem Dach. Es ist wie ein Baumhaus da oben, ihr Zimmer sitzt auf dem letzten Treppenabsatz. Rosa-Leigh hat es cremefarben gestrichen. Seit ich das letzte Mal da war, als wir uns Familia angesehen haben, hat sie an die eine Wand ein richtiges Gemälde gemalt, eine Straßenszene mit Leuten und Tieren, die dort entlanglaufen.
    »Das hast du wirklich selbst gemalt?«
    Sie nickte.
    »Meine Schwester hätte es total gemocht.«
    Sie schwieg. Dann sagte sie: »Das freut mich. Und jetzt hilf mir mit all den Kisten.«

Montag, 13. März
    Rosa-Leigh gab mir eine amerikanische Zeitschrift, die The New Yorker heißt. Sie sagte, ich solle die Gedichte lesen. Es waren zwei. Ich hatte nie eine Zeitschrift gesehen, in der es Gedichte gab. In einem davon geht es um einen Zug, der an einer Station hält. Das Gedicht beschreibt, wie man aus dem Zugfenster in die offene Haustür von jemandem schauen kann. Es geht auch um Kornblumen, die blau sind. Das ganze Gedicht gibt mir das Gefühl, ich könnte blaue Kornblumen in der Haustür einer Frau sehen. Und als ob ich auf etwas wartete.
    Nachdem ich es gelesen hatte, wollte ich selbst ein Gedicht schreiben.
    Sekunden schlüpfen durch meine Finger
Kleine silberne Fische durch ein Netz
Hitze in meinen Wangen, wie Winter
Sonne in meinem Gesicht, der Sommer ist vorbei
Der Fischer kann nicht alles fangen
In einem leeren Ozean;
In einem leeren Ozean
Schwimmen kleine silberne Fische.
    Ich weiß, das macht keinen Sinn, denn in einem leeren Ozean kann es überhaupt keine Fische geben, aber ich mag, wie es klingt – tief und kalt. Ich glaube aber, es ist noch nicht ganz fertig. Vielleicht wäre die letzte Zeile besser, wenn ich schriebe: »Schwimmen kleine silberne Fische nicht .«
    Wenn ich ein Gedicht schreibe, fühle ich mich während der ganzen Zeit des Schreibens gut. Die restliche Zeit weiß ich nicht, was ich fühle. Ich will eigentlich gar nichts fühlen.

    Gerade hat Mum die Tür aufgestoßen und gefragt, ob wir reden könnten. Ich war überrascht, fühlte mich aber so unwohl mit ihr, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. »Was?«
    Sie sagte: »Alles in Ordnung mit dir, Sophie?«
    »Warum?«, fragte ich. Wenn ich mich nur mal für einen winzig kleinen Moment lang normal fühle, muss sie es ruinieren. Unruhe und

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