Vor meinen Augen
Beine stolpert.
Als wir schließlich selbst im Bett lagen, wollte ich noch ein bisschen mit Abi reden, aber sie schlief sofort ein. Ich lag noch lange Zeit da und fand keine Ruhe.
Sonntag, 5. März
Dan hat mir eine Mail geschickt!!! Ich dachte, ich würde nie wieder von ihm hören, weil er sich bisher nicht mehr gemeldet hatte. Vielleicht hat er gespürt, dass ich an ihn dachte!
Er hat geschrieben:
Tut mir leid, dass ich dieses Wochenende nicht zu der Party kommen konnte. Wäre schön gewesen, dich zu sehen.
Ich mag die Mail, weil er die Worte nicht so abgekürzt hat wie beim Simsen, was manche Leute ja auch in den Mails tun, als wären es gar keine echten Worte. (Warum kümmern mich solche Sachen überhaupt? Was ist los mit mir?) Seit seiner Mail möchte ich jedenfalls so viele Sachen wissen, zum Beispiel, wie er an meine Mailadresse gekommen ist. Hat er nur mir geschrieben, oder allen anderen auch? Nein, auf jeden Fall nur mir: Er schreibt ja, es wäre schön gewesen, mich zu sehen! Das hätte er nicht an alle geschrieben. Abi würde es wissen, aber ich trau mich jetzt nicht, sie zu fragen. Gestern früh war sie total distanziert. Sie aß kein Frühstück, obwohl ich uns beiden Eier auf Toast gemacht hatte. Sie sagte, sie hätte einen Kater und sei zu deprimiert. Ich wollte ihr sagen, dass sie nicht wirklich einen Grund hätte, deprimiert zu sein: zumindest hatte sie immer noch ihre Schwester.
Ich wünschte, ich hätte das gerade nicht geschrieben.
Dienstag, 7. März
Lynda fragte mich, was ich in letzter Zeit über Emily geschrieben hätte. Ich antwortete nicht. Sie sagte mir, dass ich das Tagebuchschreiben ernst nehmen müsste, um nicht alles zu verdrängen, was geschehen ist. Ich fühlte mich irgendwie total schwer und konnte sie nicht ansehen. Ich sagte: »Ich verdränge gar nichts.« Bei dem Satz schmerzte jedes Wort in meinen Lungen, als sei ich in einem Zimmer voll dichtem Rauch.
Donnerstag, 9. März
Die Ferien sind vorbei und das heißt: Zurück zur Schule. Würg!
Heute Abend kletterte ich nach meinen Hausaufgaben raus aufs Dach. Normalerweise kann man von dort nicht viele Sterne sehen, aber heute Nacht war der Himmel voll davon, wie kleine Nadelstiche in einem schwarzen Tuch. Das erinnerte mich an etwas, was ich vor ein paar Jahren mit Emily erlebt hatte, und ich war froh, dass ich mein Notizbuch mit hochgenommen hatte, damit ich es gleich aufschreiben und überhaupt weiterschreiben konnte.
Ich erinnere mich, dass der Himmel damals auch voller Sterne war. Wir waren irgendwo draußen, um ein Feuerwerk anzusehen, und Emily war hungrig. Sie musste damals ungefähr dreizehn gewesen sein. Mum sagte, wir könnten uns alle Folienkartoffeln holen. Doch Emily schien auf einmal ihren Hunger ganz vergessen zu haben und machte einem Jungen schöne Augen. Mum, die das gar nicht mitbekam, ging uns voraus zum Imbissstand.
Ein Mann stand nach vorne gebeugt da und öffnete vorsichtig heiße Kartoffeln, die in Alufolie gewickelt waren. Eine Lautsprecherdurchsage kündigte an, dass gleich die Vorführung mit dem Feuerrad beginnen würde. Der Mann am Stand fragte, was wir wollten und trommelte ungeduldig mit den Fingern. Er dachte offensichtlich, wir wollten beim Feuerrad zusehen, doch wir fanden alle drei, dass diese Dinger langweilig waren, weil sie meistens bloß an einem Zaun oder einem Baum angebracht waren und sich einfach nur drehten und Funken sprühten. Ganz oft funktionieren sie nicht einmal! Selbst Mum fand sie langweilig, obwohl sie immer sagte: »Nur langweilige Leute langweilen sich.« Wir bezahlten, und der Mann stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte nach vorne, um das Feuerrad sprühen und (wahrscheinlich) ausgehen zu sehen.
Ich nahm meine Kartoffel, füllte sie mit Butter und Frischkäse und zerdrückte das Innere mit einer Plastikgabel. Emily bekam ihre und tat das Gleiche; genau wie Mum. Manchmal waren wir uns so ähnlich. Die Luft war kalt, und die Kartoffel wärmte meine Handflächen. Ich atmete den rauchigen Geruch von Lagerfeuer und verrottendem Laub ein.
Die nächste Lautsprecherdurchsage kündigte den Beginn des Feuerwerks an. Wir liefen alle drei schnell hinüber, um besser sehen zu können, drängten uns zwischen Grüppchen von Jugendlichen und größeren Familien hindurch. Ich führte eine Gabel mit Butterkartoffel zum Mund, da stieß mich jemand am Ellbogen. Meine Kartoffel fiel zu Boden, ohne dass ich einen einzigen Bissen davon hätte essen können. Ich sah darauf
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