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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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rote Nägel, für die sie ewig Zeit brauchen muss, vielleicht leistet sie sich aber auch eine Maniküre, obwohl sie ansonsten einfach nur ziemlich aufgequollen und grauenhaft aussieht. Ihr teures Parfüm wehte über mich weg. Ich sah auf ihre Fingernägel und zurück in ihr Gesicht und überlegte schon, ob ich ihr sagen sollte, dass mit mir eben nicht alles in Ordnung war, ganz und gar nicht.
    Sie blickte auf die Uhr. Es kam mir so vor, als sei sie viel zu beschäftigt, um zu hören, wie es mir wirklich ging. Ich murmelte: »Alles in Ordnung.«
    Sie nickte und sagte: »Du machst das sehr gut.« Dann ging sie weiter und ich stand zitternd da. Ich ging zur Toilette und versuchte, mich zu beruhigen. Ich dachte, ich müsste mich übergeben, aber zum Schluss musste ich es doch nicht.
    Ich stellte mir vor, wie Ms Bloxam im Lehrerzimmer saß, eine Tasse Tee trank und ein Donut aß und selbstzufrieden daran dachte, wie nett sie doch zu mir gewesen ist. Dabei hatte sie eigentlich gar nichts gemacht, nicht wirklich. Dann bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so gemeine Gedanken hatte. Sie hatte ja nur nett sein wollen.

Donnerstag, 6. April
    O mein Gott. Lucy Haywoods Dad, Mark, hatte einen Herzinfarkt. Er hatte Squash gespielt und ist dabei einfach zusammengebrochen. Mum und ich fahren jetzt ins Krankenhaus, um zu erfahren, wie es ihm geht. Er ist nicht tot, aber es klingt ziemlich schlimm. Wenn ich genau wüsste, dass es einen Gott gibt, würde ich ihm jetzt etwas zurufen, wie: »GOTT, HÖR AUF, ALLE LEUTE FERTIGZUMACHEN!«

    Mum erlaubte mir, die Schule zu schwänzen – sie wusste nicht, dass es schon das zweite Mal diese Woche war –, um den Tag im Krankenhaus zu verbringen. Normalerweise würde sie das nicht tun, aber – und das waren ihre Worte – in Anbetracht dessen, was uns zugestoßen war, und wie die Haywoods uns immer unterstützt hatten, sollten wir auch für sie da sein. Heute Morgen dachten die Ärzte wirklich, Mark würde es nicht schaffen, er wurde ziemlich lange operiert. Wir blieben den ganzen Tag dort und brachten Katherine und den Kindern Tee. Mum hielt Katherines Hand.
    Mum war so nett und tröstete alle. Eben wie eine Mutter. Unseren Streit von kürzlich erwähnten wir überhaupt nicht mehr. Ich brachte ihr zwei Tassen Kaffee, sie lächelte und sagte: »Danke«, und sah wieder aus wie früher. Dann ENDLICH kam der Arzt heraus und erlaubte Katherine, Lucy und den Zwillingen hineinzugehen und nach Mark zu sehen. Mum machte einen Schritt zurück und – niemand sah es, außer ich – hatte diesen Gesichtsausdruck, als ob ihr jemand ein Messer an die Kehle gehalten hätte: Sie verzog ganz leicht das Gesicht. Das Schlimmste ist, dass ich genau wusste, wie sie sich fühlte. Katherine und die Kinder gingen in Marks Zimmer. Mum und ich saßen in völliger Stille auf dem Flur. Es war furchtbar. Nach einer Weile kam Lucy heraus und berichtete, ihr Vater könne schon wieder sprechen. Sie war total aufgeregt und ging gleich wieder hinein. Es war ziemlich klar, dass wir nicht mehr gebraucht wurden. Ich stellte mir vor, wie sie als Familie zusammen in dem Zimmer waren, und es fühlte sich an, als seien Mum und ich die einsamsten Menschen auf der ganzen Welt.
    Wenn ihnen etwas Schlimmes passiert wäre, wenn sich Marks Zustand zum Beispiel verschlechtert hätte, dann hätten wir uns im Krankenhaus vielleicht nicht so einsam gefühlt. Aber dann wäre Mark vielleicht tot, was natürlich absolut schrecklich wäre. Mein Gott, ich weiß nicht einmal mehr, was ich da zusammenschreibe.
    Auf dem Heimweg im Auto fiel mir ein Familienurlaub ein, den wir alle zusammen gemacht hatten. Es muss vor ungefähr zehn Jahren gewesen sein, denn ich war wirklich noch ziemlich klein gewesen. Ich glaube, es war das Jahr, in dem wir nach Frankreich fuhren. Jedenfalls waren wir an einem See und es war richtig heiß. Mark und Katherine waren da, mit Lucy und den Zwillingen, die noch Babys waren. Ich weiß noch, wie Mark einen Ball in die Luft warf und ihn wieder auffing. Ich kann den Ball immer noch vor mir sehen, einen roten Ball vor dem blauen Himmel, wie er da noch einen extra Herzschlag lang hing, bevor er wieder in Marks wartende Hände fiel.
    Ich wünsche mir wirklich, dass es ihm besser geht. Ich wünsche mir, dass er aus dem Krankenhaus entlassen werden kann.

8  Sich der letzte Sommer verbirgt

Freitag, 7. April
    Schule. Grauenhaft. Als ich durch die Pforte ging, schlug mein Herz so schnell, dass es mir Angst machte.

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