Vor meinen Augen
»Komm schon«, sagte sie und sprang auf. »Lass uns gleich losziehen.«
»Es ist doch noch so früh.«
»Typisch Teenie!«, sagte sie.
»Du bist doch selbst noch einer.«
»Gerade noch. Also komm, beeil dich.«
Ich antwortete nicht; stattdessen las ich den Rückentext eines Buches, das ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Es ging über drei Generationen von Frauen in einer Familie und war sowohl Abenteuer als auch Tragödie – genau das Richtige für die Sommerferien.
Fluffy kam herein und strich um die Futterschüssel herum, und Emily holte das Katzenfutter. Die Katze tanzte jetzt erwartungsvoll um die Schüssel. Emilys Handy klingelte. Sie ging ran und unterhielt sich mit wem auch immer. Sie machte mir Zeichen und deutete auf ihre Uhr. Ich gab das Futter in Fluffys Schüssel – die Katze futterte genüsslich los. Ich überlegte, ob Em wohl mit ihrem Freund telefonierte, stellte das Geschirr in den Geschirrspüler und wischte die Brösel von der Anrichte. Emily hinterließ immer Chaos. Im ganzen Haus stolperte man über Kleidung, Bilder und Stofffetzen.
Ich duschte, zog Jeans an und eines ihrer Tops. Sie hob die Augenbrauen, als sie sah, dass ich ihr Top trug, aber sie sagte nichts. Sie trug einen grauen Rock und verschiedene Shirts und Blusen übereinander. Ich sähe mit einem solchen Outfit aus, als wollte ich unbedingt cool sein, aber bei ihr sah es nach Künstlerin und echt cool aus. Sie hatte einen kleinen Farbklecks auf ihrer Wange und sagte: »Bist du nun endlich fertig?«
Wir liefen zusammen zur Haltestelle. Sie rauchte eine Zigarette. Noch etwas, was sie am College angefangen hatte. Sie erzählte von einem anderen Projekt, das mit verlorenen Handschuhen zu tun hatte, was mich an Mums Sammlung erinnerte, aber ich sagte nichts. Ich hörte nur zu, nickte und bewunderte ihr glänzendes blondes Haar, während wir zusammen auf dem Bahnsteig warteten. An King’s Cross stiegen wir in die Piccadilly Line um. Unten auf dem Bahnsteig war viel los und die Leute drängelten sich. Wir rannten, um die nächste Bahn zu bekommen. Emily schaffte es einzusteigen, doch der Schnürsenkel meiner Turnschuhe ging auf und ich stolperte. Sie sprang wieder heraus, um mir zu helfen, und die Tür schloss sich, bevor wir wieder zusammen einsteigen konnten. Die nächste Bahn würde in zwei Minuten gehen. Ich dachte nicht, dass es darauf ankäme.
Das Schlimmste, was Emily je getan hat, war, auf mich zu warten, bis ich meinen Schnürsenkel gebunden hatte. Wenn sie nicht gewartet hätte, wären wir mit einer früheren Bahn gefahren. Wenn sie gesagt hätte, ich solle schnell aufspringen und meinen Schnürsenkel später binden, wäre alles anders gekommen. Und wenn Mark nicht Squash spielen gegangen wäre, könnte er vielleicht seinen Tag heute mit Katherine genießen, ohne zu wissen, dass sein Herz eine Zeitbombe ist.
Alles ist eine Zeitbombe.
Freitag, 21. April
Es ist kälter geworden, obwohl es eigentlich wärmer werden sollte. Ich sitze vor der Station King’s Cross und überlege, was ich machen soll. Ich wünschte jetzt, ich hätte noch einen Pulli und Handschuhe mitgenommen.
Heute bin ich richtig zeitig aus dem Haus gegangen, noch bevor Mum aufgestanden ist. Ich wollte zur Bowood Road. Es war wie ein Mantra. Bowood Road 18. Bowood Road 18. Bowood Road 18 . Nicht, dass ich wirklich wüsste, wo diese Straße liegt. Irgendwo Nähe Elephant & Castle. Ich dachte, ich gehe einfach los und werde es schon finden. Also lief ich den ganzen Weg zu King’s Cross, aber dann hing ich vor der U-Bahn fest. Seit ich dort angelangt bin, sind Hunderte von Leuten vorbeigekommen, aber niemand schien mich zu sehen. Die Luft war beißend von den Abgasen. Leute eilten vorbei und blickten nicht nach rechts oder links.
Ich beobachtete einen Mann in einem Anzug und stellte mir Blut auf seinen Wangen vor, wie die verwischte Spur eines roten Tintenschreibers. Er verschwand durch den U-Bahn-Eingang. Ich überlegte, wer er wohl war und wohin er wollte, welche Bahn er nehmen würde. Ich fragte mich, ob ihm klar war, wie viel Glück er gehabt hatte, dass er nicht in dieser bestimmten Bahn gesessen hatte. Er hatte es sicher schon vergessen, wahrscheinlich schon am nächsten Tag, hatte sein Leben weitergelebt, in seinem Büro, mit seiner Frau oder Freundin. Plötzlich hasste ich diesen Mann. Aber dann war er in der Menge verschwunden und zählte nicht mehr. Niemand zählte.
Ich sah auf das Getümmel von Leuten, die vorbeikamen. Ich wollte
Weitere Kostenlose Bücher