Vor meinen Augen
bin Emily. Das ist mein Lokal. Vielleicht kommst du ja irgendwann wieder.«
Ich wollte ihr erzählen, dass ihr Name der Name meiner Schwester war, dass ihr Restaurant nach meiner Schwester benannt war. Ich wollte ihr erzählen, dass ich zu viel Angst hatte, in die U-Bahn zu steigen, um nach Hause zu fahren, aber sie war eine Fremde und so schwieg ich.
Ich lief weiter. Der Tag war einfach so vergangen. Ich rief Mum an und schwindelte ihr vor, ich sei noch bei Rosa-Leigh und dass wir noch was zusammen unternähmen. Sie seufzte und sagte: »Das Essen ist fertig.«
»Entschuldige«, sagte ich schnell, bevor ich auflegte, das Telefon abstellte und anfing zu laufen.
Es war ein langer einsamer Weg, und zum Schluss musste ich zwei verschiedene Busse nehmen, weil ich so müde war. Als ich schließlich zu Hause ankam, war es spät. Mum hatte Auflauf mit Hühnchenfleisch gemacht. Meinen Teller hatte sie in den Kühlschrank gestellt und war schlafen gegangen. Ich aß nichts. Ich war nicht hungrig.
Samstag, 22. April
Heute Nachmittag sah ich von meinem Platz auf dem Dach, wo ich mich sonnte, Mum die Straße entlangkommen. Sie lächelte und sprach in ihr Handy. In der anderen Hand trug sie eine Einkaufstüte. Sie bemerkte mich nicht. Tränen liefen mir aus den Augen. Ich werde noch verrückt vor Traurigkeit. Ich wünschte, ich wäre nie in diese blöde Bahn gestiegen. Ich wünschte, ich hätte meine Schnürsenkel richtig gebunden. Ich lehnte mich zurück und starrte in den großen leeren Himmel und hoffte auf Antworten.
Sonntag, 23. April
Ich erwachte aus einem Traum, in dem ich Dan geküsst hatte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie er mich geküsst hatte, und bekam Schmetterlinge im Bauch bei dem Gedanken an seine Lippen, an seine Hände, die mich festgehalten hatten. Um ihn endlich zu vergessen, weil er mich nicht angerufen hat, konzentrierte ich mich auf die Griechenland-Poster an meinen Wänden, auf denen blaue und weiße Häuser abgebildet sind. Ich sah auf meine Tafel mit den hingekritzelten Zitaten aus meinen Lieblingsbüchern. Ich blickte aus dem Fenster, das von blauen Seidenvorhängen eingerahmt ist, hinüber zu einem Telefonmast, der oft von Vögeln bevölkert ist.
Ich kann das Mädchen in diesem Zimmer nicht mit dem Mädchen, das Dan bei der Party geküsst hat, in Verbindung bringen. Nichts fühlt sich mehr wie vorher an, nicht einmal ich selbst. Ich weiß nicht, wer ich bin, oder wie ich in eine Welt passen soll, die ich nicht verstehe.
Am liebsten würde ich noch einmal in die Bowood Road gehen, um mir unser altes Haus anzusehen. Dort war mein Leben noch in Ordnung. Vielleicht mache ich das jetzt sofort, nur um die endlose Zeit zu vertreiben.
Alles war ganz furchtbar. Schrecklich. Ich verstehe nicht einmal, was genau passiert ist. Es ist mir so peinlich. Anfänglich, auf dem Hinweg, war noch alles okay. Als ich das Haus verließ, war es draußen sonnig. Ich nahm einen Bus und stieg Nähe Westminster aus. Es war erstaunlich warm. Ich schwitzte, während ich lief, und meine Kehle begann zu schmerzen, als ich die warme Luft voller Autoabgase einatmete. In der Londoner Innenstadt ist die Luft so verschmutzt.
Die Gebäude in Westminster sind wunderschön. Ich hätte nicht gedacht, dass mich Gebäude überhaupt interessieren, aber das Parlamentsgebäude ist so perfekt, so beeindruckend, dass ich gar nicht fassen kann, dass ich es vorher nie richtig angesehen habe. Wir sind zwar vorbeigefahren, aber ich habe nie so davorgestanden wie heute. Wenn ich zeichnen könnte, würde ich eine Skizze davon machen. Denn wenn ich versuche, über die Farbe des Steins oder die Umrisse der Türme, über das Gefühl von Alter und Geschichte zu schreiben, das dieses Gebäude ausstrahlt, bekomme ich einfach nicht die richtigen Worte aufs Papier. Ich wünschte, ich könnte es. Heute Morgen erhob sich Big Ben aus dem Nebel, und trotz all der Autos, des Verkehrs und des Lärms, schwöre ich, dass ich die Vergangenheit richtig spüren konnte. Auf gute Weise.
Vor dem Parlamentsgebäude gab es eine kleine Demonstration gegen den Irakkrieg. Der Krieg ist so sinnlos. Allein daran zu denken, bringt mich völlig durcheinander. Manche sagen, der Krieg mache Dinge besser. Für wen? Nicht für mich. All diese Leute, die getötet werden, und wofür? Für die Religion? Das scheint mir unmöglich. Menschen sind wütend, Menschen sind verwirrt oder haben vielleicht auch Angst, aber doch nicht wegen der Religion.
Dans Familie ist
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