Vor meinen Augen
wollte sie nett und freundlich sein, aber das regte mich nur noch mehr auf.
Ich machte einen Schritt zurück. Ich versuchte, nicht zu schreien, aber die Worte kamen trotzdem sehr laut heraus. »Mit mir war es nicht leicht zu reden. Was war es denn dann mit dir ?«
»Sophie«, sagte sie wieder.
»Für sie hattest du immer Zeit. Für mich nie. Weil ihr euch nämlich so ähnlich ward – sie war genau wie du. Ich bin anders, schwieriger und überhaupt nicht wie sie. Du willst dir gar keine Zeit für mich nehmen. Du willst nur einfach sie zurück.«
»Versuchen wir, uns nicht anzuschreien«, sagte sie ruhig. »Wir müssen Raum für einen Dialog lassen.«
»Du bist nicht meine bescheuerte Therapeutin, und du hast KEINE AHNUNG WOVON DU SPRICHST.«
Sie machte einen Schritt nach vorne, und ich machte sofort einen Schritt um sie herum. Sie sagte: »Es tut mir leid, dass ich dir nicht erzählt habe, dass ich wieder anfange zu arbeiten. Seit einer Weile bin ich nicht mehr krankgeschrieben, und ich möchte nicht die ganze Lebensversicherung deines Vaters für unseren Lebensunterhalt aufbrauchen. Das Geld soll für dich sein.« Sie sprach ruhig und langsam.
»Es ist mir egal, ob du wieder arbeitest.«
Sie sagte: »Und ich möchte, dass du dich nie mehr mit ihr vergleichst.«
»Du kannst nicht einmal ihren Namen aussprechen«, zischte ich und wich zurück bis zu meiner Zimmertür. »Ich geh noch weg«, sagte ich.
»Wir müssen reden.«
»Hör mit dem ganzen bescheuerten Raum-für-Dialog -Zeug auf und lass mich in Ruhe.« Ich floh aus meinem Zimmer, rannte die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus, bevor sie noch irgendetwas sagen konnte.
Ich hetzte die Straße entlang, bis ich die High Street erreicht hatte, hier war alles dicht und die Autos hupten. Ein paar Leute kamen aus einem Café heraus in die Dämmerung. Das orangefarbene Licht der Innenbeleuchtung fiel auf die Straße. In meinem Kopf sah das aus, als ob Flammen eines riesigen Feuers herausloderten, die Leute flohen – Männer husteten und Sabber lief ihnen übers Gesicht; Frauen stolperten blind im Rauch umher, die Augen weit aufgerissen, wie tote Fische; das Heulen von Sirenen war zu hören. Ich lehnte mich gegen eine Hauswand und holte einige Male tief Luft.
Mum fängt wieder an zu arbeiten. Sie ist darüber weg. Ich hätte mich freuen sollen, aber Wut brodelte in mir wie Lava in einem Vulkan. Sie ist gut in ihrem Job – unser Haus ist der Beweis dafür. Alle sagten immer, wie schön unser Haus eingerichtet ist. Alle, damit meine ich die Freunde der Familie – Freunde, die nicht mehr vorbeikommen. Nicht, dass sie es nach der Beerdigung nicht immer wieder versucht hätten.
Donnerstag, 20. April
Als ich zu meinem Nachholtermin bei Lynda ging und mich setzte, fragte sie mich mehrmals, ob alles mit mir in Ordnung sei. Sie wollte wissen, warum ich den letzten Termin vergessen hatte. Ich ignorierte sie. Es wird mit jedem Mal leichter, schweigend dazusitzen und so zu tun, als sei sie nicht einmal da.
Heute wollte sie mit mir über Dad reden. Ich hatte nichts über ihn zu erzählen, ich war zu klein, als er starb. Stattdessen dachte ich an Mark Haywood. Ich erinnerte mich daran, wie Mark einmal abends zu viel getrunken hatte und im See in der Nähe ihres Hauses schwimmen gehen wollte. Es war stockdunkel da draußen und sehr kalt. Mum und Katherine sagten ihm, er solle nicht so albern sein und er würde sich den Tod holen. Mark schwamm durch den ganzen See. Als er wieder hereinkam, zitterte er vor Kälte, aber er war VOLLER LEBEN. Nicht tot, ganz im Gegenteil.
Mark erholt sich inzwischen immer mehr von seinem Herzanfall, auch wenn er ihn angeblich ziemlich »aufgerüttelt« hat.
Erwachsene sagen das öfter: »aufgerüttelt«. Es scheint mir nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, wie man sich fühlt, nachdem man gerade noch einmal vor etwas Schlimmem bewahrt wurde. Aufgerüttelt fühlt man sich doch, wenn man Achterbahn gefahren ist, lebendig und aufgeregt.
Bestimmt fühlte Mark sich so, als er damals abends noch im See geschwommen ist, da bin ich mir sicher. Ich konnte es in seinen Augen sehen, wie er innerlich total aufgerüttelt war, glücklich, aufgeregt. Wenn etwas Schlimmes passiert ist, fühlst du dich eher wie betäubt, als sei alles gar nicht wirklich. Du fühlst dich innerlich tot. Überhaupt nicht aufgerüttelt.
Ich habe ein Nickerchen gemacht und geträumt, dass riesige Hände ein Foto von Emily, Mum und mir in kleine Schnipsel
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