Vor meinen Augen
rissen. Es war ein totaler Albtraum. Ich wachte schweißüberströmt auf und ging auf Zehenspitzen in Mums Büro mit der Sammlung und öffnete die Tür. Es war noch mehr Zeug da, als beim letzten Mal, aber diese Sachen sah ich mir nicht an. Ich suchte nach Fotos. Im Schreibtisch fand ich unsere Geburtsurkunden, zusammen mit unseren Pässen und sonstigen Dokumenten. Das Passbild von Emily ließ Tränen bei mir aufsteigen. Ich versuchte mich zu erinnern, wo Mum die Fotoalben aufbewahrt.
Hektisch sah ich die Regale durch. Ich war nicht mehr ruhig oder traurig, sondern nervös und panisch. Mein Atem kam nur noch abgerissen. Ich wusste nicht genau, weshalb ich suchte. Es war, als sei ich verrückt geworden. Ich zog all die Handschuhe und Schals heraus und eine hübsche goldene Halskette mit einem roten Stein daran, der von silbernen Blütenblättern umgeben ist. Ich blätterte einen kleinen Stoß Papier durch, der sich als Sammlung alter Briefe herausstellte.
Darunter entdeckte ich ein Album. Es war voller Fotos von Emily und mir. Ich begann zu weinen. Ich nahm das Album und verließ das Zimmer, eilte ins Badezimmer und schlüpfte hinaus aufs Dach. Ich sah die Fotos an, bis mein Herz sich anfühlte wie ein Apfel mit furchtbar vielen Dellen.
Hinten im Album ist ein Foto von uns vor dem Haus, in dem wir wohnten, als ich noch ganz klein war. Ich berührte das Foto. Mum steht in der Mitte und hat mich auf dem Arm, Emily steht rechts von ihr. Emily trägt rote Gummistiefel und winkt in die Kamera. Ob es wohl Dad war, der das Foto gemacht hat? Er starb, als ich zwei Jahre alt war, und auf dem Foto bin ich noch ein Baby, das Mum anlacht. Ich drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand in Mums Handschrift: Bowood Road 18 .
Plötzlich hatte ich das Gefühl zu wissen, warum sie verlorene Dinge sammelt. Und ich wünschte mir, zu unserem alten Haus in der Bowood Road zu gehen, zurück zu dem Ort, wo alles noch heil war. Ich wollte zurück, zurück zu der Zeit, bevor es passierte, und wo alles noch in Ordnung war.
Auf dem Dach zu sitzen beruhigt mich irgendwie. Da bekomme ich einen Blick auf die Welt unter mir und kann durchatmen. Ich streichelte Emilys Wange auf dem Bild. Sie war so glücklich.
Ich erinnerte mich an den Morgen im letzten Sommer. Es kommt mir vor, als sei es ewig her, und trotzdem steht dieser Morgen in meinem Gedächtnis absolut klar und deutlich vor mir. Ich wachte ziemlich früh auf. Emily ist den ganzen restlichen Sommer hier. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich schob mich aus dem Bett und lief in ihr Zimmer. Sie war nicht da. Ich ging in die Küche, und sie saß am Frühstückstisch.
»Hi«, sagte ich. »Wie hast du geschlafen?«
»Gut.« Sie blickte nicht hoch, sondern las weiter Zeitung.
Ich fragte: »Wo ist Mum?«
»Sie ist schon zur Arbeit – eine Kundin hatte es furchtbar eilig damit, ihr Haus umgestalten zu lassen.« Sie legte die Zeitung weg und sagte: »Also, kleine Schwester, willst du heute was unternehmen?«
»Klar. Und was?«
»Ich möchte mir diese Ausstellung in der Nationalgalerie ansehen.«
»Wo ist das?«
Sie verdrehte die Augen. »Trafalgar Square. Wir nehmen die Bahn.«
Ich nickte. »Was für eine Ausstellung ist es?«
Sie reichte mir eine Broschüre mit den Einzelheiten, stand auf und ging zur Anrichte. »Kaffee?«, fragte sie.
»Seit wann trinkst du denn Kaffee?«
»Schon immer.«
»Ich nehme Tee.« Ich blickte kurz auf die Broschüre und blätterte dann in der Zeitung. Emily setzte sich wieder mit ihrem Kaffee.
Sie sagte: »Die lese ich eigentlich gerade.«
»Wo ist mein Tee?«, fragte ich.
Sie legte die Hand in gespielter Überraschung vor den Mund. »Entschuldige«, sagte sie sarkastisch.
»Wie blöd war ich eigentlich, dass ich mich darauf gefreut habe, dass du heimkommst.«
»Sei nicht so, Soph. Tut mir leid. Ich habe jetzt einfach keine Lust, noch Tee zu machen. Du kannst aber einen Kaffee haben, er ist schon fertig.« Sie schob mir ihre Tasse hin.
»Nein, danke«, antwortete ich und schob die Tasse wieder zurück.
Ich stand auf und machte mir Tee und Toast mit Erdnussbutter. Emily erzählte mir von ihrem Freund. Es stellte sich heraus, dass ich ihn noch nicht kannte. In der Küche war es ziemlich warm und der Tisch war hell erleuchtet von der Sonne, die durchs Fenster schien. In diesem Licht sah alles so engelhaft aus. Das sagte ich auch Emily. Sie lachte und meinte, meine Phantasie ginge mit mir durch, und ich sollte mehr aus dem Haus gehen.
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