Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
Vom Netzwerk:
meine Arme ausbreiten und alle anschreien, dass sie nicht dort hinuntergehen sollten. Sie sollten nicht in die U-Bahn hinuntergehen!
    Ich konnte nicht hineingehen. Ich konnte einfach nicht hineingehen und in eine Bahn steigen. Allein bei dem Gedanken daran hätte ich am liebsten angefangen zu heulen. Schließlich kaufte ich mir einen Stadtplan von London, um die Bowood Road zu finden. Wenn ich einen Bus nahm, konnte ich hinterher am St.-Thomas-Krankenhaus vorbeilaufen, wo ich geboren worden war. Also beschloss ich, diesen Weg zu nehmen. Ich fuhr also erst mit dem Bus und lief dann WIRKLICH WEIT. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass London so groß ist. Oder dass manche Teile so abgeschieden liegen können. Ich meine, ich hatte natürlich gewusst, dass es groß war, aber ich hatte es nie vorher gefühlt .
    Als ich am St.-Thomas-Krankenhaus vorbeikam, sah ich hoch zu den grauen Kastenfenstern, versuchte mir mich selbst als Baby vorzustellen. War Emily bei den Krankenhausbesuchen bei mir dabei gewesen? Bestimmt! Ich bemühte mich, dem Gebäude in meiner Phantasie irgendwie Leben einzuhauchen, doch natürlich stellte sich keine Erinnerung ein. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass es mehr Bedeutung für mich haben würde. Wie ich so dastand, wurde mir klar, wie viele Tausende von Babys hinter diesen Fenstern geboren worden sein mussten, wahrscheinlich wurden sogar gerade im Augenblick dort welche geboren. Ich war eine von vielen. Nichts Besonderes, gar nichts.
    Ich lief nach Süden. Entlang der Straßen reihten sich kleine Läden und Pubs, die Leute gingen geschäftig ihrem Leben nach, Busse fuhren vorbei, Autos hupten, mich umgab der Lärm und das Chaos von London.
    Und ich lief und lief.
    Und dann kam ich dort an.

    Die Bowood Road ist schmal, mit Reihenhäusern, die alle im gleichen Stil gebaut sind. Ich hatte gehofft, mich an etwas, irgendetwas zu erinnern, aber ohne das Foto hätte ich nicht einmal unser altes Haus erkannt. Die Sonne stand am Himmel, strahlend und warm. Ich setzte mich auf eine niedrige Mauer gegenüber der Hausnummer 18. Um ungefähr vier Uhr nachmittags kam ein junger Typ und ging in die Nummer 20 hinein. Zehn Minuten später sprang er fröhlich wieder heraus, lächelte mich kurz an und eilte davon. Er sah aus, als sei er ungefähr in meinem Alter, er war blond mit einem netten Lächeln. Ich lächelte zurück. Dieser blonde Junge wäre vielleicht mein Freund, wenn Dad nicht gestorben wäre und wir nicht aus der Bowood Road hätten wegziehen müssen. Wir hätten uns die ganze Zeit gegenseitig besuchen und zusammen etwas unternehmen können. Bestimmt hatten wir als Kleinkinder zusammen gespielt.
    Ich ging fort. Meine Hände zitterten.
    Ich lief wie auf Autopilot. Eine Ewigkeit später merkte ich, dass ich hungrig war. Ich betrat ein Lokal und dachte, ich könnte da etwas essen, aber dann sah ich, dass alle nur etwas tranken und Darts oder Billard spielten, also ging ich wieder raus.
    Ich sah das Wort Emily’s an einem etwas heruntergekommenen Haus nebenan, die Buchstaben waren in roter Leuchtschrift. Ihr Name. Ein Restaurant. Drinnen war es schwach erleuchtet und leer. Es roch nach Burger und altem Pommesfett. Im Hintergrund dudelte irgendein Oldie. Eine Frau mit einer Brille, deren Gläser dick und gelblich waren, stand an der Tür und wischte einen der Tische ab. Sie war dünn und erinnerte mich an einen Vogel, einen halbverhungerten Reiher, doch sie bewegte sich ziemlich schnell.
    Ohne innezuhalten fragte sie: »Kann ich etwas für dich tun?« Ihrem Akzent nach war sie wahrscheinlich aus Schottland.
    »Ich möchte etwas essen.«
    »Okay.« Sie musterte mich, und wir sagten beide nichts. Es kam mir vor, als ob sie mich abschätzte. Ich meinte sogar zu sehen, wie ihre Pupillen dunkler wurden, während sie überlegte. Leise sagte sie: »Alles in Ordnung mit dir?«
    »Hab nur Hunger.«
    »Das kenne ich«, sagte sie. Sie beugte sich vor und tätschelte mir leicht die Schulter. Dann führte sie mich zu einem Tisch weiter hinten.
    Ich sah mir die Speisekarte an. »Ich nehme das Hühnchen mit Pommes, bitte.«
    »Ketchup?«
    Ich nickte. »Und eine Cola.«
    Die Zeit plätscherte so dahin. Ich sah mir die Fotos von Berühmtheiten an der Wand an. Mein Hühnchen kam. Ich aß alles, was sich auf dem vollen Teller befand. Dann ging ich zur Theke, die mit einer Lichterkette verziert war und bezahlte meine Rechnung mit einem verknitterten Schein.
    Die Frau sagte: »Ich hoffe, dir geht es jetzt besser. Ich

Weitere Kostenlose Bücher