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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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gleichmäßig zu atmen. Ich sagte: »Ich erkenne das Haus nicht mehr. Na ja, irgendwie schon. Ich glaube, wir hatten einen runden Tisch und vielleicht war da drüben eine Pflanze.«
    »Es muss schon Jahre her sein, dass du hier gewohnt hast. Wir leben schon ewig hier.« Eleanor setzte Wasser auf. »Wir haben schon Kaffee getrunken. Mach doch einen Tee, Sally.« Sie setzte sich neben mich.
    »Ich dachte, ich würde mich an mehr erinnern. Es sind aber eigentlich nur Schatten von Erinnerungen. Nichts Genaues.«
    Sally fragte: »Ist sie wieder okay?«
    »Mit viel Zucker. Das müsste helfen. Im Geschirrspüler sind noch saubere Tassen.«
    »Was hat sie denn?«
    »Weiß ich auch nicht.«
    »Ich glaube«, sagte ich, »ich glaube, ich werde verrückt.« In meiner Vorstellung sah ich ein orangefarbenes Licht, spürte das Glas des Küchenfensters in winzige Splitter zerbersten. Um meinen Kopf wieder klarzubekommen, legte ich eine Hand über die Augen.
    Eleanor blieb ruhig. Die Haut um ihre Augen war voller kleiner Fältchen. Sie hustete und ihre Lungen rasselten. Als ich nichts weiter sagte, fragte sie: »Ist irgendetwas passiert?« Sie war sehr nett und vorsichtig.
    Ich holte tief Luft, die Panik ließ langsam nach. »Ich habe früher mit meiner Mum, meinem Dad und meiner Schwester hier gelebt.«
    Eleanor blickte hinüber zu ihrer Tochter, dann wieder zurück zu mir. Mir war, als sackte mein Herz schwer nach unten. Wie sollte ich nur erklären, was mit mir los war? Ich sagte: »Es gab einen Unfall. Nein, nicht direkt einen Unfall.«
    Sally stellte drei Tassen und eine volle Teekanne auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Sie lächelte, und ich sah in ihrem übertrieben breiten Lächeln, in ihren aufgerissenen freundlichen Augen, dass sie dachte, ich sei nicht ganz dicht.
    Ich sagte: »Ich wollte einfach hierherkommen. Ich weiß, es macht nicht viel Sinn.« Ich sah die Tassen an. »Es tut mir leid«, sagte ich.
    Eleanor nickte. »Geht es dir jetzt wieder besser?«, fragte sie. Ihre Stimme war laut und sie sprach langsam, als müsse sie eine sehr schlechte Telefonverbindung halten. Sie streckte eine Hand aus und berührte mich kurz am Arm. »Gibt es irgendjemand, den wir anrufen können?« Sie goss Tee ein, gab zwei Zuckerstücke in eine Tasse und schob sie zu mir.
    Ich nahm einen Schluck davon und schmeckte die Süße des Tees. Ich versuchte, alles in meinem Kopf neu zu ordnen.
    Sally sagte leise: »Ich muss zu Dad, Mum.«
    »Bitte Juliette, dich zu fahren«, antwortete Eleanor. Dann, noch etwas leiser, als könnte ich sie nicht hören: »Dieses Mädchen hier braucht noch einen Moment Zeit.«
    Ich sagte: »Nein, tut mir leid. Ich sollte gehen. Ich störe nur.« Ich konnte einfach nicht aufhören, mich zu entschuldigen.
    Eleanor hob beruhigend die Hände. Ich rührte mich nicht.
    Sally sagte: »Bis später dann«, und ging.
    Ich sagte: »Ich sollte auch gehen. Ich habe Sie genug gestört.« Meine beinahe volle Teetasse starrte mich vorwurfsvoll an.
    »Sag mir, wen ich anrufen kann«, wiederholte Eleanor.
    »Da gibt es niemanden. Es wird nie besser.«
    »Was ist mit deiner Mutter? Oder deiner Schwester?«
    Ich schüttelte den Kopf. Die Panik war aus mir herausgesickert, und nun fühlte ich mich nur noch leer und beschämt. »Ich muss gehen.« Ich war mir nur allzu bewusst, wie demütigend die Situation war. Diese Frau war eine völlig Fremde.
    Mein Kopf schmerzte. Ich rieb meine Augen. »Es tut mir wirklich leid. Ich weiß irgendwie gar nichts mehr.«
    Ich stand auf und zog meine Jacke um mich. »Ich muss gehen.«
    »Ich würde dir gern helfen.«
    Ich fühlte mich, als ob jemand mit einer flachen Klinge unter meinen Brustkorb gefahren sei und die Knochen anhob. Ich eilte durch den Flur und antwortete nicht, als Eleanor mir folgte und fragte: »Bist du sicher, dass du klarkommst?«
    Als ich die Tür öffnete, sagte sie: »Komm, setz dich doch noch einmal. Wir rufen jemand an.«
    Ich log: »Nein, meine Freundin wohnt in der Nähe. Sie bringt mich nach Hause.«
    Und das war es dann. Die Tür von Bowood Road Nummer 18 schloss sich, und ich ging hinaus auf die Straße, als sei nichts geschehen. Es dauerte Stunden, bis ich zu Hause war.

Montag, 24. April
    Die Osterferien sind vorbei. Ich rief im Schulsekretariat an und sagte, ich hätte Grippe. Die Sekretärin schwieg einen Moment und sagte dann: »Sophie Baxter. Du warst vor den Ferien schon einige Tage krank und jetzt bist du es wieder?«
    »Ja. Ich bin einfach

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