Vor uns die Nacht
eifersüchtig, höchstens auf spöttische Weise verständnisvoll, was mich dazu antreibt, mein Tempo zu erhöhen, Krankheit hin oder her. Selbst wenn ich dazu bereit wäre, ich könnte diese Frage nicht beantworten.
Jonas ist nicht mein Ritter, nicht jener Ritter in der schimmernden Rüstung, der mich von allem Bösen erlöst. Aber er ist der Einzige, den ich habe, und nach wie vor mein bester Freund. Wenn ich nach meiner Bettelei und dem Appell an seine Gefühle einen Rückzieher mache, werde ich ihn für immer verlieren. Das toleriert er nicht. Im Gegensatz zu mir trägt er noch einen Rest Stolz im Leib. Ich habe meinen Gedanken umgesetzt und bin für einen halben Tag zu meinen Eltern gegangen. Wir sprachen uns aus, kratzten dabei aber nur an der Oberfläche – es wurde weder über Jan noch über die Diagnose gesprochen und auch nicht darüber, was zwischen Jonas und mir ist. Dann hielt ich es nicht mehr aus und kehrte mit fliegenden Fahnen in die WG zurück, obwohl Mama erneut weinend am Küchentisch saß, als ich ging. Dieses Haus atmet nur noch Sorge und Angst. Ich hatte das Gefühl, dort eher von einem neuen Schub heimgesucht zu werden, als wenn ich mich in meinem winzigen WG-Zimmerchen verbarrikadiere.
Doch auch Jonas und ich haben nicht mehr gesprochen. Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht gab er mir einen zarten Kuss auf die Wange und ist zur Arbeit aufgebrochen, und als er Feierabend hatte, sah es für ihn aus, als wäre ich gar nicht fort gewesen. Dreimal widerstand ich der Versuchung, ihm ins Gesicht zu sagen, dass das mit uns niemals so klappen wird, wie wir es beide gerne erleben würden. Doch die Stille zwischen uns ist so machtvoll, dass Worte verhallen, bevor sie ausgesprochen werden. Es lähmt mich – genau wie der Gedanke, dass Jonas nun das hat, wonach er sich die ganze Zeit gesehnt hatte: mich. Doch er wirkt nicht glücklich dabei. Wir haben uns nicht geküsst, nehmen uns nur hin und wieder stumm in den Arm – eine Freundschaftsumarmung, keine Liebesumarmung. Vergangene Nacht habe ich sogar in meinem Bett geschlafen, unter dem Vorwand von starken Kopfschmerzen. Wenn ich noch Humor besäße, würde ich darüber lachen. Wir leben nebeneinanderher wie ein frustriertes Ehepaar und benutzen die gleichen altbackenen Ausreden, um einander nicht nahe zu sein. Eigentlich ist das ein guter Grund, früh zu sterben. Denn das halte ich nicht länger als fünf Jahre aus. Allein die nächsten fünf Tage erscheinen mir wie eine unbezwingbare Herausforderung. Wie soll es erst werden, wenn Jonas in zwei Wochen Urlaub hat und den ganzen Tag in der WG ist?
»Okay, du bist also mit ihm zusammen. Ich hoffe, der Sex ist gut? Er macht es sicher ordentlich.«
Ich lege noch einen Zahn zu, biege in einem waschechten Hasenhaken nach rechts vom Spazierweg der Promenade ab und schlage mich durch die Büsche hinauf zur Brücke. Das Grün wuchert inzwischen so dicht, dass Dornen meine Knöchel zerkratzen und mir mehrmals Zweige ins Gesicht schlagen. Aber Zeckenbisse können mich nicht mehr schrecken, Bagatellchen im Vergleich zu dem, was in meinen Hirn und Rückenmark an Fehlzündungen auf mich wartet. Da fällt eine Borreliose nicht großartig ins Gewicht.
Nein, wir haben keinen Sex, denke ich und ich tue es so bewusst und intensiv, dass ich mir einen Moment lang nicht sicher bin, ob ich es dabei ausgesprochen habe oder nicht. Hat Jan es gespürt? Oder geht er sowieso davon aus? Er soll ruhig glauben, dass wir es tun, denn ich möchte ihm keinen Grund geben, auf eine Fortsetzung unserer Affäre zu hoffen. Trotzdem formt mein Kopf erneut diesen unrühmlichen Satz: Wir haben keinen Sex.
»Für eine Sterbenskranke bist du aber gut zu Fuß!« Vor Schreck gerate ich ins Stolpern, doch Jan greift sofort nach meinem Arm und hilft mir, mein Gleichgewicht wiederzufinden. »Na ja, zumindest bis eben noch.«
Mit der Hand am Geländer bleibe ich stehen und spüre, dass die gesamte Brücke vibriert, was mir das Gefühl verleiht, sie könne irgendwann in der Mitte entzweibrechen. Noch im Frühling hat mir das einen Kick gegeben. Jetzt fürchte ich zu fallen, wenn ich länger stehen bleibe. Also hole ich Luft und trabe weiter, versuche mit jedem Schritt zu verdrängen, was Jan eben unmissverständlich ausgesprochen hat. »Für eine Sterbenskranke bist du aber gut zu Fuß.« Er weiß Bescheid. Er weiß es … Er sollte es doch niemals erfahren. Das war das Einzige, woran ich mich hatte festhalten können – dass ich in Jans
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