Vor uns die Nacht
ich kriege ein Gesicht wie ein Pavian und dünne Haut und dann … irgendwann klappt auch das, also das im Bett nicht mehr und …«
»Ach, red doch keinen Mist! Du hast gegoogelt, oder? Du hast gegoogelt. Ich dachte, du hättest bisschen Grips in der Birne.«
Ich kann kaum glauben, was hier gerade passiert. Ich lasse mich von einem neunzehnjährigen Malemodel runterputzen, das gerade zum zweiten Mal versucht, sein Abitur zu machen. Mit eher geringen Erfolgsaussichten. Natürlich habe ich gegoogelt; nicht nur das: Nach einigen Tagen der kompletten Verweigerung habe ich mich einer Online-Selbsthilfegruppe angeschlossen und mich in einem MS-Forum angemeldet. Beides hat mich nur weiter in den Sog meiner Angst gezogen, doch immerhin bin ich nicht alleine damit.
»Man googelt nicht nach Krankheiten«, weist Jan mich barsch zurecht. »Man will sich über einen Schnupfen informieren und ist nach einer halben Stunde überzeugt, Nasenkrebs zu haben. Das ist doch Käse, echt.«
Er ist richtig sauer, beginnt, in den Kies zu treten, sodass feiner grauer Staub aufsteigt, und brummelt derbe Verwünschungen in sich hinein, bis er sich zu mir rumdreht und vor mir in die Hocke geht, um auf einer Höhe mit mir zu sein.
»Ronia. Du bist so weit weg vom Tod, glaub mir. Du fühlst dich an wie ein Kätzchen, ganz warm und weich. Ich hatte noch nie eine Frau, die sich so anfühlte. Der Tod kann dir nichts anhaben.«
»Es ist aber Realität, Jan. Dass theoretisch alles passieren kann. Jederzeit. Das ist die Natur dieser Krankheit.«
»Es kann immer alles passieren! So ist das Leben. Du kannst nachher über diese Brücke gehen und irgendein Idiot schreibt eine SMS beim Autofahren und fährt dich tot. Morgen kann ein Flugzeug auf euer Haus krachen oder ein Meteorit fällt vom Himmel. Es kann aber auch alles gut werden. Wenn ich das richtig verstanden habe …« Er grinst selbstverliebt. »Ich hab ja auch gegoogelt. Dann sind deine Prognosen gut. Kann sogar sein, dass die Diagnose gar nicht stimmt. Oder? Antworte, Ronia, komm schon.«
»Kann sein. Aber genau das macht es so furchtbar. Ich muss auf den zweiten Schub warten und er kann jede Sekunde geschehen. Ich hab seit drei Nächten nicht geschlafen. Wie soll ich so leben? Und was ist, wenn ich irgendwann blind werde? Ich konnte kaum mehr etwas sehen in der einen Nacht.«
Das ist mein größtes Schreckensgespenst. Blindheit. Nichts mehr sehen können von den Schönheiten dieser Welt. Jan nicht mehr sehen können, wenn auch nur auf den Fotos. Womit soll ich mich trösten, sobald meine Beine aufhören zu laufen? Denn wenn der Kummer sich gelegt hat, wird es mir ein Trost sein, die Bilder von ihm anzusehen und zu wissen, dass wir uns geliebt haben. Körperlich zwar nur, aber es fühlte sich an wie Liebe. Schöner wird es nie wieder werden.
»Mach die Augen zu«, fordert er mich auf. »Bitte. Schließ deine Augen.«
Ich tue, was er sagt, ich tue es sogar gerne, denn noch schmerzt es mich, ihn anzuschauen. Weil ich weiß, dass ich meine Entscheidung nicht ändern werde. Behutsam greift er nach meiner rechten Hand und führt sie an sein Gesicht. Ganz von alleine beginnen meine Finger, seine Züge zu ertasten. Die fein gezeichneten, aber dichten Brauen, die Narbe am rechten Auge, von der ich immer noch nicht weiß, woher sie stammt, seine James-Dean-Nase, sein eigenwilliges Kinn und diesen weichen, lieben Mund.
»Was sind wir dann, wenn ich blind und krank bin? Was?«, wispere ich angstvoll. Ich falle ins Bodenlose, wenn ich mir vorzustellen versuche, nicht wieder zurück ins Licht tauchen zu können. Trotzdem weiß ich, dass ich sein Gesicht niemals vergessen werde.
»Was wir dann sind?« Unter meinen Fingerspitzen spüre ich, dass er lächelt. »Zwei Engel, die im Dunkeln spielen.«
Ich lasse meine Augen geschlossen, als er mich zu sich zieht und ich meine Wange an seine Schulter schmiege, während seine Arme mich fest umfassen, ein Ort, der so sicher und geborgen erscheint, dass alles Böse der Welt keinen Zutritt hat. Zwei Engel, die im Dunkeln spielen …
Wenn ich nur Flügel hätte.
»Aber es ist nicht mehr wie vorher, Jan. Alles ist anders.« Sobald ich mich von ihm löse, beginne ich zu frösteln. »Du weißt jetzt so viel über mich, so viel Privates. Doch ich weiß nichts über dich, nichts über deine Kindheit und Jugend und Familie. Das geht so nicht.«
Oh, es geht schon. Das ist mir klar. Andere können das, finden es sogar belebend und spannend. Aber ich halte es
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