Vor uns die Nacht
Vorstellung gesund und sexy bleibe. Jetzt muss auch er jenes abscheuliche Bild im Kopf haben, das mich seit Tagen verfolgt: Ronia entstellt, krumm und sabbernd im Rollstuhl, bei jedem Handgriff angewiesen auf die Hilfe anderer. Zwar klar im Kopf, aber ohne jegliche Kontrolle über ihren Körper. Leichter wäre es, debil zu werden und gar nicht erst mitzukriegen, was man alles nicht mehr kann.
»Wie weit möchtest du laufen, bis nach Rotterdam?«, fragt Jan mehr geduldig als ironisch, nachdem wir den Kiesstrand erreicht haben. »Ändert auch nicht das, was ist.«
Er hat ja recht, das hier führt zu nichts. Keuchend setze ich mich mit dem Rücken zu ihm auf den Rest einer knorrigen Baumwurzel, die das letzte Hochwasser angeschwemmt hat. Nein, nach Rotterdam schaffe ich es nicht, ich bin jetzt schon erledigt. Und wieder weiß ich nicht, ob meine Schwäche normal ist oder ein erneutes Symptom. Es kann einem den Verstand rauben. Kein Wunder, dass die meisten MS-Erkrankten irgendwann beim Psychotherapeuten landen.
Jan stellt sich neben mich und zündet sich eine Zigarette an. Seine Augen streifen mich mit einem kurzen, prüfenden Blick, dann richtet er sie wieder aufs Wasser.
»Der erste Schub scheint jedenfalls abgeklungen zu sein.« Oh, so einfach ist das für ihn. Ich kann laufen, also bin ich gesund.
»Woher weißt du es? Hat Jonas es ausgeplaudert?« Das würde zu Jonas passen – dass er Jan aufsucht und ihm steckt, was los ist, damit er ja nicht auf die Idee kommt, es noch einmal zu versuchen. »Es war Jonas.«
Jan lacht auf und pustet sich eine blonde Strähne von der Nase. »Der würde mir doch nicht mal deine Schuhgröße verraten.«
»39«, komme ich ihm entgegen.
»39 und zwei wunderhübsche, zarte Flossen.« Errötend senke ich den Kopf und habe eine blasse Vision, wie er meinen linken nackten Fuß auf seine Brust zieht und ich sie mit meiner Sohle streichele. Stopp. Das wird es nicht mehr geben. Nie wieder. »Nein, es waren deine Eltern, wer sonst?«
»Meine was? Meine Eltern?« Ach herrje. Er ist zu meinen Eltern gegangen? Mutig, geradezu tollkühn. Wenn er das getan hat, muss er den Verdacht gehegt haben, dass ich gelogen habe und alles, was ich sagte, nur ein Vorwand war. Guter Instinkt, das muss ich ihm lassen. Gleichzeitig ist es völlig irre, was er getan hat. Er hat unsere Geschichte damit in die Öffentlichkeit gebracht. Denn das Pfarrhaus ist Öffentlichkeit.
»Hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass du ein paar Tage in der Klinik warst. Aber keiner wusste genau, warum. Deine Alten hatten die besten Gründe, es mir auf die Nase zu binden – und an meine Moral zu appellieren.« Jan spuckt aus, um mir zu demonstrieren, was er von Moral hält. »Sie waren sich so sicher, dass ich mir das nicht antun will, weißt du?« Jetzt grinst er, gehässig, aber auch ein wenig traurig. »Dein Dad sprach von Verantwortung und Schonung und Mitmenschlichkeit und Pflege, blablabla, und die ganze Zeit warteten sie darauf, dass ich einknicke und mich mit einer Ausrede verpisse. Mann, Ronia, hast du das etwa auch gedacht? Dass ich mich verpisse? Hältst du mich für einen solchen Feigling?«
Verdattert schweige ich und beginne Steine zu sortieren, weiß, grau, gelblich, bis ich eine winzige Muschel finde und sie auf einem grauen Stein drapiere.
»Ich … ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, antworte ich schließlich konfus. Stimmt, ich bin davon ausgegangen, dass er die Flucht ergreift. Andererseits wollte ich es gar nicht so weit kommen lassen. Und wieso überhaupt Flucht ergreifen? Wir waren doch gar kein richtiges Paar gewesen. Nur Sex, ohne Verantwortung und Verbindlichkeiten. Er konnte gehen, wohin er wollte.
»Um es kurz zu machen: Nachdem ich Genaueres wissen wollte, haben sie mich rausgeschmissen, mit der Ansage, dass ich mich dir nicht mehr nähern soll, weil ich dir schade. Darauf gebe ich einen Scheiß.« Er schmeißt seine Kippe in die sanfte Uferbrandung, wo sie langsam Richtung Meer dümpelt. »Sehstörungen und Kribbeln in den Beinen? War es das? Der erste Schub?«
»Ja«, bestätige ich widerwillig. Es macht mich verlegen, darüber zu sprechen. Leichter wäre es, mit ihm meine Menstruationsbeschwerden zu erörtern, obwohl das trotz seiner diffusen Kenntnisse von fruchtbaren Tagen bislang ebenfalls unvorstellbar gewesen war. »Aber das ist doch nur der Anfang, Jan! Die Liste ist endlos! Es kann alles passieren, jederzeit, ich muss dauerhaft Medikamente nehmen, dazu immer wieder Cortison,
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