Vor uns die Nacht
nicht aus.
»Ist das denn so wichtig? Dass man viel übereinander weiß? Wir haben uns doch auch ohne das sofort erkannt, oder?« Ich kann spüren, wie die Engel in uns ihre Schwingen ausbreiten und davonfliegen. Jan geht auf Distanz. Ich stehe auf, die Wurzel kommt mir kalt und klamm vor. Auch Jan erhebt sich. »Dieses Wühlen in der Vergangenheit, macht das Sinn? Die Vergangenheit ist nur eine Illusion, sie ist nicht existent.«
»Ach, so ist das. Dann studiere ich also die Nicht-Existenz? Ja? Das ist es, was wir tun, wenn wir Gesteinsschichten freilegen, bis uns die Finger und Knie bluten – das ist alles nicht existent? Jan, wenn das alles nicht existiert, dann bin ich jetzt, in diesem Moment, todkrank, nur das, und mehr nicht, denn mein gesundes Leben ist vorbei! Es existiert nicht! Auch das mit uns ist vorbei, also existiert es nicht! Deine Worte!« Mit jedem Satz bin ich lauter und zorniger geworden. Der Druck in meinem Körper bringt mich dazu, einen dicken Stein aufzuheben und mit Wucht ins Wasser zu schmeißen. Mir bricht dabei beinahe der Arm ab, doch die Anstrengung tut gut, sodass ich gleich zwei weitere Wacker hinterherwerfe. »Wir erklären euch die Gegenwart! Das ist es, wozu wir Historiker, Paläontologen und Archäologen da sind! Willst du nicht wissen, woher du kommst?«
Seelenruhig deutet Jan nach oben.
»Ach, aus dem Himmel? Der Storch hat dich gebracht, das ist aber schön. Kleine Info am Rande: Der Storch kann nur Babys bringen, wenn Papa nicht immer kurz vorher Reißaus nimmt und sich an der Bettwäsche vergeht.«
»Unendlichkeit«, sagt Jan, ohne sich um meine Provokation zu kümmern. »Daher kommen wir. Glaubst du nicht?«
Meint er das ernst oder will er mich nur aufstacheln? Er liest den Lindner, genießt also offenbar gymnasialen Biologieunterricht, er muss wissen, dass wir von Körpern und mit unserem Körper geboren werden und sterben und mehr nicht.
»Hör auf mit diesem Gelaber, ich bitte dich! Ich ertrag das nicht, das ist krank!« Nein, ich fühle mich krank, wenn ich es zulasse, viel kränker, als die multiple Sklerose es mit ihren Attacken schaffen könnte. Denn es greift mein Herz an. »Ich kann damit nichts anfangen, es gibt mir keine Sicherheit, überhaupt nicht. Und das ist es, was ich jetzt brauche – Sicherheit! Ich muss wissen, wer du bist, und du willst es mir nicht sagen.«
»Du weißt es.« Er ist immer noch ruhig, aber seine Worte peitschen mich an den Abgrund. Du weißt es … Es macht mir Angst, wenn er solche Dinge sagt, versteht er das nicht? Ich muss andere Sachen hören. Etwas, was ich seelisch anfassen und begreifen kann. Damit es mich umgreift.
»Es geht nicht, Jan. Sorry. Ja, vielleicht hab ich es zwischendurch mal kurz gefühlt, aber es zu wissen, ist etwas anderes, und ich hab weder Worte noch Bilder dazu gefunden. Es war einfach nur da«, stottere ich. Nun schmeißt auch Jan Steinchen ins Wasser und lässt sie über die Wellen hüpfen, etwas, was ich nie hinbekommen habe. »Mir reicht das aber nicht. Solche Worthülsen wie eben, die kannst du jedem hinwerfen. Das ist nicht schwer. Licht, Seelen, Unendlichkeit. Das sind Allgemeinplätze. Schreib ein Buch drüber. Es ändert nichts an dem, was wir sind. Du bist ein Mensch und ich bin ein Mensch und ich möchte wissen, wie du zu dem geworden bist, den ich hier sehe, genauso wie du weißt, dass ich sterben werde und warum. Das ist nur fair!«
Wieder lässt er einen Kieselstein übers Wasser springen, abwesend und konzentriert. Hat er gehört, was ich gesagt habe? Oder längst abgeschaltet, weil es ihm zu blöd wird? Ich schaue noch zwei weiteren Steintänzchen zu, wartend und hoffend, doch Jan dreht sich nicht um.
»Dann eben nicht. Leb wohl.«
»Du bist gegangen. Nicht ich«, höre ich ihn murmeln, als ich mich abwende, um zurück zur Brücke zu laufen, doch bereits auf der Uferpromenade bin ich überzeugt, mir diese Worte nur eingebildet zu haben.
Auch das ändert nichts. Ob er sie gesagt hat oder nicht – ja, ich bin gegangen, denn ich muss für mich entscheiden, was ich kann und was nicht. Wenn ich ihm nun vertraue und damit auch seinem Statement, sich nicht zu verpissen, obwohl ich krank bin, dann wird trotzdem ein ewiges Ungleichgewicht zwischen uns sein. Er ist der Starke, ich bin die Schwache.
Das will ich nicht. Bei jedem anderen habe ich das gesucht und willkommen geheißen; ich war die kleine Maus, die Schutz gesucht und den Mann dann versehentlich verbal erschlagen hat, sodass er
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