Vor uns die Nacht
Die Erinnerungen an Jan werden verblassen, bestimmt. Es ist doch immer so. Nur das zählt, was ist, und das, was ist, ist gut. Ronia und Jonas in einem Bett. Sein Hoffen und Sehnen ist wahr geworden.
Doch er macht keinerlei Anstalten, mich zu küssen oder sich auch nur meinem Gesicht zu nähern. Ich grolle ihm deshalb nicht. Er hat mir sein Versprechen gegeben, das ist alles, was ich wollte – der Rest hat Zeit. Jahre und Jahrzehnte. Ich bin in Sicherheit.
Doch je tiefer er schläft und je wacher ich werde, desto schwerer fällt es mir, ruhig liegen zu bleiben. Vorsichtig drehe ich mich auf die Seite und betrachte ihn. Ein hübscher Mann, ich weiß das, ich denke es immer, wenn ich ihn genauer ansehe. Sicherlich ist er auch ein guter Liebhaber. Es wäre so einfach, er würde mich nicht zurückweisen. Ich müsste nur meine Hand auf seine Brust legen und sie abwärtstasten lassen, ihn dabei küssen, seinen Hals, seine Schlüsselbeine … meinen Schenkel auf seinen schieben. Inzwischen weiß ich, wie man verführt.
Was stand auf der einen Website – dass man sehr wohl Kinder kriegen kann mit multipler Sklerose, nur sollte man es besser früh tun, damit man möglichst lange für sie sorgen kann? Weil man nie weiß, wie rasch die Krankheit voranschreitet?
Zeit ist Luxus, den ich nicht mehr habe. Ich bin alt genug, um Mutter zu sein, und ich werde mein Kind lieben – und erst Jonas. Jonas mit einer kleinen Tochter auf dem Arm. Selbst wenn er so distanziert bleiben würde wie jetzt, er würde mich niemals verlassen, wenn wir Kinder hätten.
Gebannt sehe ich meiner linken Hand zu, wie sie sich fast schwebend seiner nackten Brust nähert – und nur wenige Millimeter über seiner Haut verharrt. Nein. Ich kann es nicht. Es ist nicht fair. Nicht Jan gegenüber, nicht Jonas gegenüber und vor allem nicht mir gegenüber. Es ändert nichts. Ich bin krank. Auch ein Baby kann mich nicht retten.
Vielleicht kann es selbst Jonas nicht.
Ich bleibe neben ihm liegen, steif und schmerzhaft wach, und höre seinem und meinem Atem zu, die sich nicht finden. Niemals. Es ist noch immer stockdunkel, als ich begreife, dass es unsere erste und letzte gemeinsame Nacht sein wird.
Jonas ist ein Ritter – und er ist der edelmütigste und treuste, den es auf dieser Erde geben kann.
Aber er ist nicht mein Ritter.
Morgen werde ich meine Sachen packen und zurück zu meinen Eltern ziehen.
Am helllichten Tag
L auerst du mir etwa auf? Geh mir aus dem Weg.«
»Nein.«
Ich bleibe viel zu schnell stehen und füge mich seinem Diktat, aber meinen Stolz habe ich mit meiner Bettelei Jonas gegenüber bereits vor drei Tagen endgültig auf den Müll geschmissen. Seitdem habe ich mich in meinem Zimmer verkrochen und nur geschlafen, gegessen und gelesen, bis mich eine neuerliche Panikattacke überfiel, hitziger und krallender als die vorherigen, und an die frische Luft scheuchte. Ich will an den Fluss, gehend, nicht rennend, um bei Atem zu bleiben. Doch schon nach der zweiten Ecke löste sich seine Gestalt aus einem Hauseingang und versperrte mir den Weg.
»Vorsicht, junge Frau!«, ruft ein älterer Herr beschwingt und fährt in einem schlenkernden Bogen um mich herum. Ich stehe bereits auf dem Fahrradweg, weiter nach links kann ich nicht ausweichen, dann befinde ich mich mitten auf der Straße im Feierabendverkehr. Andererseits wäre das die passende Chance, mich schnell und endgültig aus diesem Dilemma zu befreien.
»Lass mich durch, sonst schreie ich«, drohe ich zischend und marschiere weiter. Gelassen heftet sich Jan an meine Fersen, in einem Abstand von ein, zwei Metern, den Blick gesenkt – es wäre völlig unangemessen, deshalb am helllichten Tag herumzubrüllen und um Hilfe zu bitten. Es ist sein gutes Recht, sich auf diesem Bürgersteig zu bewegen. Entschlossen wechsele ich die Straßenseite, doch auch dieses Manöver bleibt wirkungslos. Er ist immer noch hinter mir.
Soll ich Jonas oder Johanna anrufen, um über irgendetwas Banales mit ihnen zu reden, damit Jan klar wird, dass ich kein Interesse habe, mit ihm zu sprechen? Das wäre zumindest besser, als schweigend vor ihm herzulaufen. Suchend taste ich über meine Jeans, doch ich habe mein Handy in der Wohnung liegenlassen. Es ist nebensächlich geworden seit meiner Diagnose, ich schalte es nicht mal mehr an. Wenn ich das Haus nicht verlasse, brauche ich auch nicht mobil erreichbar zu sein.
»Bist du jetzt mit deiner Gouvernante zusammen? Ja?« Jan klingt nicht im Geringsten
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