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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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gesenkter Stimme und schiebe meine Finger zwischen ihre, als würden unsere Hände miteinander beten. Johanna muss bei Jans Blick an ein Gedicht von Rilke denken – das ist so schön, dass es wehtut. Ich halte mein Gesicht in das flackernde Grün der Lindenblätter, als Johanna langsam und ruhig zu sprechen beginnt.
    » Bei dir ist es traut:
    Zage Uhren schlagen
    Wie aus weiten Tagen.
    Komm mir ein Liebes sagen –
    Aber nur nicht laut.
    Ein Tor geht irgendwo
    Draußen im Blütentreiben.
    Der Abend horcht an den Scheiben.
    Lass uns leise bleiben:
    Keiner weiß uns so. «
    Nun weine ich doch wieder, Tränen wie sanftes Gift, die in mein dunkles Haar sickern und auf Johannas und meine ineinander verschränkten Hände tropfen. Keiner weiß uns so … Ja, es ist wahr. Niemand kann ermessen, wie unschuldig und rein das war, was Jan und ich miteinander teilten. Aber offenbar spürt Johanna es – nach nur einem einzigen Blickwechsel zwischen uns, den sie beobachtet hat.
    »… und vor uns die Nacht«, murmele ich nach einer kleinen Pause, in der wir die Verse Rilkes in unseren Herzen nachhallen lassen. Ich sehe einen Schwarm Vögel vor mir, der über die Wellen des Meers gleitet und dann am Horizont verschwindet, während die Sonne untergeht. Vor uns die Nacht. Aber jeder Nacht folgt ein Tag und auch die Tage wollen gelebt und gefüllt werden. Ich habe es verlernt. Johanna fragt nicht, was ich meine, sondern lässt wie ich Worte Worte sein, bis wir beide den Mut finden, uns ihnen wieder zu nähern.
    »Mir ist, als würde es da eine Geschichte geben. Hinter ihm.«
    »Er wird sie mir nicht erzählen. Ich habe es versucht. Er will nicht«, erwidere ich hoffnungslos.
    »Ich meine eine Geschichte zwischen dir und ihm. Eine uralte.«
    »Johanna, genauer kannst du es nicht sagen, oder?«, frage ich vorsichtig, obwohl ich spüre, was sie meint. Es ist keine Geschichte, die man recherchieren und belegen kann wie bei meinen Arbeiten an der Uni. Man kann sie nur fühlen.
    Sie schüttelt entschieden den Kopf und muss sich erneut ein paar dunkle Strähnen aus ihrem schmalen Gesicht streichen. »Ich kann mich ja auch irren. Wissen tu ich nichts. Hab nie mit ihm geredet. Er wollte es, als du im Krankenhaus warst, doch ich hab ihn abgewimmelt. Aber ich hab das hier noch, schau mal.«
    Sie kramt ihr Smartphone aus dem Rucksack, tippt ein Weilchen darauf herum und reicht es mir dann. Ein Video läuft, unscharf und verwackelt, doch ich erkenne Jan sofort. Unvorbereitet, wie ich bin, möchte ich das Handy von mir werfen und wegrennen, um ihn nicht anschauen zu müssen, doch ich bleibe wie gelähmt sitzen, eine kleine, gemeine Vorbereitung auf meine Zeit im Rollstuhl. Auch dann werde ich vor nichts mehr weglaufen können.
    »Du hast ihn gefilmt? Wann war denn das?«
    »Auf dem Johannisfest, gerade vor Kurzem erst. Nicht fragen, nur gucken und hören. Er ist wie du …«
    Jetzt erst nehme ich die Musik wahr, arabisch angehauchter, langsamer Reggae, und Jan tanzt dazu, die Augen wie immer zur Hälfte verborgen, seine Bewegungen offen, harmonisch und gelöst. Nun hebt er die Arme ein Stück Richtung Himmel, als wolle er ihn grüßen, während seine Hüften im Rhythmus bleiben. Der silberne Halbmond, den er um seinen Hals trägt, blitzt kurz auf und wirft eine grüne Reflexion in die Luft. Niemand der anderen Tanzenden und Umstehenden schaut auf ihn, alle sind mit sich beschäftigt und doch – sie spüren ihn. Auch diese Aufnahme könnte man so nehmen und in einen Hollywood-Film schneiden, ohne Brüche. Seine Aura überträgt sich sogar auf den kleinen Handybildschirm.
    »Die Kamera liebt ihn, das ist normal, er ist Model, irgendwas muss er ja können«, versuche ich es mit einer nüchternen Erklärung abzutun und will Johanna das Handy zurückgeben. Doch sie schiebt es mir wieder unter die Nase. Ich muss weiterschauen. Nun lächelt er – ja, er lächelt. Glücklich und versunken. Eine warme Welle flutet über mein Gesicht.
    »Ich glaube, er ist in Wahrheit ein Prinz aus Tausendundeiner Nacht…«, flüstert Johanna in mein Ohr. »Ein verzauberter.«
    »Muss ein übler Zauber sein«, bemerke ich spöttisch.
    »Das sind sie immer.« Johanna grinst keck und zeigt erneut auf Jan, als habe sie persönlich ihn erschaffen, bevor der Film zu Ende ist und sie das Handy zurück in den Rucksack schiebt. »Ich würde gerne wissen, was für ein Prinz hinter diesem bösen Zauber steckt.«
    »Ich auch«, gebe ich zu, was ich mir insgeheim seit Wochen

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