Vor uns die Nacht
europäischen Landes. Das nächste Krankenhaus ist zwanzig Minuten entfernt.« Kai Schuster lächelt mich gewinnend an. »Du bist bei mir in besten Händen. Viel größere Sorge als ein möglicher Schub bereitet mir deine Sonnenempfindlichkeit. Ohne Hut lasse ich dich nicht graben und ich werde persönlich dafür sorgen, dass du genug trinkst.« Mit einem melodischen Summen atmet er aus und dehnt seine Schultern, ohne sich um meinen skeptischen Blick zu kümmern. Es knackt zweimal laut, eine Folge des ewigen gebückten Sitzens am Schreibtisch und im Dreck.
»Aber das ist es doch nicht alleine«, nutze ich seine Schwäche für ein weiteres Argument. »Wozu soll ich studieren, wenn ich irgendwann nicht mehr als Archäologin arbeiten kann? Was ergibt das für einen Sinn?«
»Lebst du jetzt oder in der Zukunft, Ronia?« Ich zucke zusammen, denn sein Ton ist scharf geworden und sein Geduldsfaden gefährlich dünn. »Du stehst quicklebendig vor mir und willst mir weismachen, dass nichts mehr von dem, was du tust, sinnvoll ist. Aber welchen Sinn hat es, sein Talent zu vergeuden und nur noch auf das Schlechte zu warten? Ronia, du bist eine Ausnahmebegabung! Selbst wenn du eines Tages im Rollstuhl sitzt, kannst du immer noch Hunderte von Menschen begeistern, wenn du bei einem Vortrag davon erzählst, wie du Atlantis entdeckt hast!«
»Du übertreibst«, versuche ich ihn errötend zu stoppen. Das hier ist gerade ein Heiratsantrag der Wissenschaft – er weiß genau, wie sehr er mich damit kitzelt.
»Ich übertreibe nicht, denn ein Talent ist nutzlos, wenn es nicht genährt wird. Du allein kannst es blühen lassen. Wusstest du, dass sich bei deinen mündlichen Prüfungen mehr Kollegen zum Protokollieren melden, als vorgeschrieben sind? Weil es Spaß macht, dir zuzuhören, wenn du mit Theorien jonglierst. Du führst jeden Satz zu Ende, jeden einzelnen – was glaubst du, welches Gestotter wir uns sonst zu Gemüte führen müssen. Aber du, du brillierst, als würdest du bereits fünf Jahre als Dozentin an der Uni arbeiten. Da ist es uns auch herzlich egal, dass du dir keine Zahlen merken kannst. Du begreifst das große Ganze, die Matrix dahinter! Außerdem hast du das gewisse Etwas – die Spürnase. Du witterst Schätze!«
»Mir wird das langsam peinlich, ehrlich. Hör auf damit.« Doch Kai Schuster erwidert bereitwillig das Lächeln, das von mir Besitz ergreift und mich strahlen lässt, als habe ich eben wahrhaftig Atlantis entdeckt.
»Es sollte dir nur peinlich sein, wenn du das alles aus bloßer Angst hinwirfst. Nur aus Angst.«
»Angst ist viel«, widerspreche ich mit halber Kraft. Ja, Angst ist viel und sie ist mörderisch. Aber soll sie wirklich über alles siegen? Könnte ich damit leben? »Es geht trotzdem nicht. Meine Eltern wollen mich nicht unterstützen. Finanziell. Sie sind dagegen; irgendwie wollen sie nicht, dass ich weggehe, und nun haben sie den allerbesten Grund, bei dieser Meinung zu bleiben.«
»Du bist erwachsen und an Geld sollte es niemals scheitern. Wir finden einen Weg. Keine Sorge. Aber Ronia …« Sein breites Grinsen schwindet und er sieht mich an, als würde ich ihn gleich schlagen. »Du müsstest rasch deine Prüfungen nachholen. Das ist wichtig. In drei Wochen geht es los. Schaffst du es in zwei Wochen, dich vorzubereiten?«
»In drei Wochen?«, wiederhole ich atemlos. Das ist Irrsinn. Wie soll ich es schaffen, in drei Wochen alles zu organisieren? Und eigentlich wollte ich mich doch exmatrikulieren. Ehrlich, wollte ich das? Kai wartet schweigend ab, während ich steif vor ihm stehe und immer wieder dazu ansetze, etwas zu sagen, um mich doch wieder zu stoppen. Er wird keines meiner Neins, Trotzdems und Abers gelten lassen.
»Okay«, sage ich schließlich lahm. »Das schaffe ich wohl.«
Wenn es drauf ankommt, kann ich mir den Stoff auch in einer Woche in meinen Kopf prügeln – womit ich etwas zu tun habe und dazu ein Ziel. Noch nicht Frankreich, das wäre zu groß, aber eine Wegesetappe. Ein sanftes Kribbeln durchwandert meine Hände und Unterarme – kein krankhaftes, sondern ein freudiges. Die Zeiten, in denen ich bangen und hoffen musste, Jan wiederzusehen, sind vorbei. Ich muss nur noch mit dem Kummer zurechtkommen. Lernen ist eine gute Möglichkeit, mich davon abzulenken. Vor allem ergibt das Lernen jetzt wieder einen Sinn. Oh verflucht, hätte Kai bloß nicht Atlantis erwähnt. Ich glaub nicht, dass es Atlantis gibt, aber ich würde es gerne entdecken, wie wohl jeder meiner
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