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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Kommilitonen. Kai hat damit mein Fernweh angezapft. Jetzt breitet es sich in mir aus wie ein kühler, erfrischender See, dessen Staumauer gebrochen ist und der sich seinen Platz zurückerobert. Frankreich könnte nur der Auftakt sein für das, was anschließend auf mich wartet, nämlich ein archäologisches Abenteuer nach dem anderen. Ich muss ja nicht im mexikanischen Dschungel zerfallene Aztekenruinen ausgraben oder im Himalaya nach buddhistischen Höhlengemälden suchen. Überall auf der Welt wollen Geheimnisse gelüftet werden.
    »Darf ich mir jetzt endlich einbilden, deine Karriere gerettet zu haben?« Kai ist geschafft. Seine Stirnader zeichnet sich deutlich ab und in den Schläfen glitzern Schweißtropfen. Doch er sieht sehr zufrieden aus.
    »Von mir aus«, gestatte ich ihm generös seinen Sieg.
    »Lass dein Licht strahlen, Ronia. Eine blöde Diagnose ändert daran nichts. Versprochen?«
    »Mal sehen«, entgegne ich unbestimmt. Mit Versprechungen bin ich neuerdings vorsichtig und »blöd« ist die Untertreibung des Jahrhunderts.
    »Das Studentensekretariat hat übrigens gerade in dieser Minute seine Pforten geschlossen und macht erst am Montag wieder auf. Nur zur Info!«
    »Ja, du hast meine Karriere gerettet und ich werde dir auf ewig dankbar sein. Gut jetzt?« Ich bücke mich und nehme meinen Rucksack wieder auf die Schultern. Kais Mundwinkel reichen nun fast bis zu seinen abstehenden Ohren. »Frohes Schaffen, Idefix«, flöte ich ihm zu und husche aus dem Zimmer, bevor er begreifen kann, was ich gerade gesagt habe.
    Meine freche Verabschiedung spüre ich noch immer wie das Prickeln eines sauren Brausestäbchens auf meiner Zunge, als ich im Zug nach Hause sitze und die Sommerlandschaft an mir vorbeiziehen lasse. Doch meine Entscheidung dahinter wird mir in ihrer vollen Wucht erst bewusst, als ich abends im Bett liege und meinen Körper nach eventuellen Warnsignalen durchscanne. Das werde ich auch in Frankreich jeden Tag tun müssen. Es kann sein, dass es mich dort erwischt, zwischen Fremden, weit weg von meiner Familie, Jonas und Johanna. Würde ich damit umgehen können? Kai Schuster würde damit umgehen können, dessen bin ich mir sicher. Er sagte es selbst – ich bin bei ihm in guten Händen. Denn uns verbindet nichts als die Wissenschaft. Das ist eine sichere Bank.
    Noch einmal wandere ich von den Füßen aufwärts durch meinen Organismus. Doch da ist nichts. Alles ruhig und friedlich. Ich höre sogar mein Herz schlagen, das flüsternd nach Jan fragt, genau wie meine Hände und mein Bauch. Unentwegt fragen sie mich, warum er nicht da ist, und ich kann ihnen nichts antworten.
    In diesen Momenten der Stille und Sehnsucht weiß ich nicht, warum ich gegangen bin. Es entgleitet mir.
    Aber ich kann mir wieder vorstellen, dass auch auf mich eine Zukunft wartet.
    Vielleicht sogar ist sie schön.

Farbige Träume
    M eins«, flüstere ich, schlüpfe aus meinen Sandalen und taste mit meinen nackten Fußsohlen über die Kieselsteine. Pudriger Staub legt sich über meine Haut und den Saum meiner Jeans. Es hat wochenlang nicht geregnet. Der Fluss ist schmal geworden. »Das ist meins.«
    Hier zu sein, tut weh. Ich wusste, dass es wehtun würde, aber ich hatte mit erbarmungsloseren Schmerzen gerechnet. Die Tränen, die jetzt über meine Wangen rinnen, lösen sich ohne Qual und Krämpfe. Sie erzählen keine Geschichten von verzweifelten Dramen, deren Ende blutig und grausam ist, sondern beruhigen mich und zeigen mir mit ihrer wohltuenden Wärme, dass es gut war hierherzukommen – an unseren Fluss, von dem ich nun ein Territorium für mich alleine erbitten muss. Denn es kann nicht sein, dass er Jans und meinen Begegnungen im Grün des Auwaldes gehört und ich nur noch unter Angst und den Plagen meiner Erinnerung an ihn denken kann.
    Es ist Zeit, einen Teil dieses Ufers zu meinem eigenen Reich zu erklären. Die flachen, großen Steine auf der Promenade waren schon immer das Reich von Johanna und mir gewesen, die Brücke und der Auwald das von Jan und mir. Daran soll sich auch nichts ändern. Doch dieser weiße Markierungspfosten hier, mit der schwarzen 72 und den drei Stufen, die von ihm hinab zum Kiesstrand führen, ist mein Reich. Ich brauche einen Ort, an dem mich nichts stören und an dem ich sitzen und sein kann, in Freiheit, ohne Wände, Decken und Fensterscheiben. Nirgendwo sonst gibt es das. Rechts und links von mir spenden zwei dichte Büsche Schatten, hinter mir verdeckt die grasbewachsene Böschung die Sicht

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