Vor uns die Nacht
erhoffe. »Aber das kannst du abhaken. Er mimt lieber den geheimnisvollen Bad Guy. Dann soll er das eben tun, bis ihm die Eier abfallen.« Meine groben Worte können meine Traurigkeit nicht verdecken. Doch Jan steht nicht an der Spitze meiner heutigen To-do-Liste und die Vorstellung, dass morgen Freitag ist und ich nicht mit Imodium akut und Baldrian im Handgepäck durch die Weltgeschichte laufen muss, hat etwas Erleichterndes. Obwohl es mir schwerfällt, mich aus Johannas und meiner verborgenen Märchenwelt zu lösen, in die wir uns als Kinder oft für ganze Nachmittage verloren haben, werfe ich einen pflichtbewussten Blick auf die Uhr.
»Ich muss, Josy. Kai Schuster wartet. Und danach will ich mich exmatrikulieren.«
»Du hast ja wohl einen Vollknall.« Johanna lacht laut auf und klatscht sich die Hand gegen die Stirn. »Exmatrikulieren. Ja, und ich ziehe ins Playboy-Haus. Ich sag dir was, Ronia: Ich hatte einen Studienplatz in Hamburg sicher und nur deinetwegen bin ich hiergeblieben. Wenn du dich exmatrikulierst, ist unsere Freundschaft aus und vorbei. Für immer.«
»Keine Ahnung, wer hier den Vollknall hat, vielleicht haben wir beide einen, aber meiner ist der bessere.« Johanna hat sich große Mühe gegeben, ernst und streng zu gucken, während sie mir drohte, doch ich glaube ihr kein Wort. Wir können es uns gar nicht aussuchen, ob wir miteinander befreundet sind oder nicht. Alles, was uns bleibt, ist, unserer Bestimmung zu folgen oder nicht zu folgen. Freunde werden wir immer sein.
»Bis bald.« Ich küsse sie auf ihre rechte Wange, bevor ich mich am Klettergerüst abseile, mit den Sandalen in der Hand über das kühle Gras flitze und barfuß zurück zur Uni renne, um Kai Schuster noch rechtzeitig zu erwischen. Doch als ich an seine Tür klopfe, habe ich den Eindruck, auf eine Bühne zu treten und ein Theaterstück spielen zu wollen, das in Wahrheit nichts mit mir selbst zu tun hat.
»Ronia, endlich. Setz dich. Oder bleib stehen, ist mir egal. Ich habe sowieso nur einen Satz zu sagen: Du kommst mit nach Frankreich.« Bekräftigend haut Kai Schuster auf seinen restlos überladenen Schreibtisch. Ein paar lose Papiere segeln lautlos zu Boden und reihen sich dort ordentlich nebeneinander auf.
»Ich wusste gar nicht, dass wir Brüderschaft getrunken haben«, gebe ich mich reserviert und bleibe stehen. Noch zeigt mein vieles Laufen seit dem Winter Wirkung – ich bin kaum außer Atem. Vermutlich mache ich auch nicht den Eindruck, an einer tödlichen Krankheit zu leiden. Ich bin die personifizierte Sommerfrische, barfuß und mit Lockenmähne.
»Adrett«, lobt Kai Schuster schmunzelnd, beugt sich vor und zieht mir mit weit ausgestrecktem Arm ein Lindenblatt aus den Haaren. »Das mit dem Brüderschafttrinken holen wir nach. Keine Sorge, ich habe eine bezaubernde Frau und liebe sie sehr, auch wenn sie mir manchmal grässlich auf die Nerven geht. Aber wir begegnen uns hier gerade als Menschen und nicht als Dozent und Studentin. Du willst dich ja sowieso exmatrikulieren, oder?« Sein Schmunzeln verwandelt sich in ein mokantes Grinsen.
»Multiple Sklerose«, spreche ich die Diagnose in ihren zwei grausamen Worten aus, um Kai Schuster seinen Schwung zu nehmen und den Humor gleich mit dazu. »Ich habe wahrscheinlich multiple Sklerose.«
Er ist erschrocken, ich habe es genau gesehen, doch ebenso schnell fängt er sich wieder.
»Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin auch. Ich nehme an, sie hat mehr Berufsstress, als du je haben wirst. Weiter?«
»Wie, weiter? Nehmen Sie mich gar nicht ernst? Was wollen Sie dann überhaupt von mir?«, echauffiere ich mich.
»Du und Kai, bitte. Doch, ich nehme dich ernst. Genau aus diesem Grund lasse ich dich erst wieder aus diesem Raum, wenn du mir deine Zusage für Frankreich gegeben hast.«
»Herrgott, Sie verdammter Stur … du Sturkopf«, verbessere ich mich und stelle fest, dass die Wirkung mit einem »Sie« effizienter gewesen wäre. Vermutlich weiß er das ganz genau. Sein Duzen hat Kalkül. »Ich bin krank, wie oft soll ich es noch sagen! Ich kann nicht!«
»Soweit ich weiß, gibt es meistens monatelang keine Schübe, sogar in manchen Fällen jahrelang. Oder?« Es ist aber auch zu ärgerlich, dass jeder glaubt, ein Halbwissen über Krankheiten zu haben und vor allem über diese. Alle müssen ihren optimistischen Senf dazugeben.
»Ja, aber was ist, wenn dort ein Schub kommt? Was dann?«
»Ronia, wir graben nicht in Timbuktu, sondern inmitten eines zivilisierten
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