Vor uns die Nacht
zeigt sie auf das freudlose Ambiente der Cafeteria. »Können wir nach draußen gehen? Ich kenne eine ruhige Ecke, wo ich in den letzten Wochen manchmal Mittagspause gemacht habe. Komm.«
Ehe ich etwas darauf erwidern kann, hat sie mich am Handgelenk gepackt und zieht mich hinter sich her. Bis eben war die Cafeteria der beste Platz für unsere ausgekühlte Freundschaft, aber nun hat etwas von Johanna Besitz ergriffen, das ich lange nicht mehr erlebt habe. Wann immer wir uns früher ein Geheimnis anvertrauten, haben wir es im Freien getan – versteckt zwischen zwei Fliederbüschen in unserem Garten oder unten an der Uferpromenade, wo wir stundenlang auf den warmen Steinen am Wasser saßen und redeten. Sie hat recht, auch ich fühle es, Geheimnisse gehören nicht in geschlossene Räume. Sie wollen schweben.
Die Sohlen unserer Sandalen klappern auf dem heißen Asphalt, als Johanna mich durch mehrere Straßen und Gassen führt, bis wir vor einem kleinen Park mit Spielplatz stehen. Kein einziges Kind turnt auf den Geräten herum oder wirft im Sandkasten mit Förmchen, es ist zu heiß dafür. Wie ausgestorben liegt die Wiese vor uns. Ferienstille.
»Komm, da oben ist Schatten!« Geschickt wie ein Äffchen erklimmt Johanna das Klettergerüst. Ich ziehe meine Sandalen aus, bevor ich ihr folge und neben ihr auf einem kleinen hölzernen Burgturm Platz nehme. Hier kann uns niemand sehen oder belauschen. Über uns rauscht das Laub einer großen Linde im sanften Augustwind. Wie früher, denke ich verträumt. Es ist wie früher in unserem Garten. Jetzt brauchen wir nur noch Wassereis und unsere Anziehpuppen.
»Also, was ist mit Jan? Was wolltest du sagen?«
Johanna atmet sich Mut zu und streicht sich ihren gepunkteten Rock glatt. »Erinnerst du dich an eure Begegnung auf dem Brunnenfest? Im April? Als er dich so … so angestarrt hat?«
»Ja. Ja, natürlich erinnere ich mich«, erwidere ich bedrückt. Der Abend, an dem Johanna und ich uns verkracht hatten und Jan mit mir ins Tierheim einbrach. Wie sollte ich ihn jemals vergessen können? Aber warum denke ich heute an Johannas und meinen Streit und an die Tierheimhunde und nicht an unsere wilde Knutscherei auf der Brücke? »Ist lange her.«
»Du weißt doch, dass ich manchmal dieses – na, dieses komische Menschengefühl habe. Oder?«
Ich nicke nur – oh ja, Johannas Instinkt. Er hat uns in der Vergangenheit schon aus der ein oder anderen brenzligen Situation gerettet, weil sie ganz genau spürt, welche Menschen Ärger im Sinn haben – und zwar oft aus weiter Ferne. »Ich hab das ja nicht nur im Negativen, sondern auch im Positiven. Bei dir zum Beispiel hatte ich es.«
»Ja, ehrlich?«, frage ich erstaunt. Das wusste ich nicht. Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern. Johanna und ich haben uns in der Grundschule kennengelernt, gleich am allerersten Tag, weil … genau. Noch bevor wir den Klassensaal betraten, hatte sie von hinten meine Hand ergriffen und sich neben mich gestellt. Es war klar, dass wir uns auch nebeneinandersetzen würden, denn wir hielten uns schon an den Händen. Aber warum eigentlich?
»Du hast irgendwie geleuchtet. Ich hab nur dich gesehen, niemand sonst. Da waren so viele Kinder, aber für mich gab es nur dich. Deine Augen musste ich nicht kennen. Ich wusste, dass ich dich mögen würde.« Und so war es gewesen. Von diesem Tag an blieben Johanna und ich unzertrennlich. Wir mussten uns nicht erst anfreunden. Wir waren bereits befreundet, bevor wir miteinander gesprochen hatten.
»Was hat das mit Jan zu tun?«
»Halt mich für verrückt, aber bei ihm hatte ich ein ähnliches Gefühl. Ich weiß, zuerst war ich entsetzt und musste an all das denken, was über ihn geredet wird, und machte mir Sorgen um dich. Aber als ich zu Hause war, kam mir immer wieder sein Blick in den Sinn. Diese Art, wie er dich angeschaut hat.«
Plötzlich beißen Tränen in meinen Augenwinkeln, doch ich möchte nicht, dass Josy aufhört zu reden. Jedes ihrer Worte ist wie ein kühlendes Blütenblatt auf meinen Wunden. Ich werde ihrer bewusst, doch sie heilen auch.
»Er schaute dich an, als würde er dich schon lange kennen. Und als könne ihn nichts an dir überraschen. So – so vertraut. Mir kam ein Rilke-Gedicht in den Sinn. ›Bei dir ist es traut‹. Kennst du es?«
Nein, ich kenne es nicht, aber ich erinnere mich daran, dass Johanna schon in der Schule Rilke-Gedichtbände mit sich herumtrug.
»Möchtest du es hören?«
»Ja«, antworte ich mit
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