Vor uns die Nacht
auf den Stein. Selbst Jan könnte mich nicht entdecken, wenn er am Fluss herumstromern würde. Auf diesen Stufen bin ich geschützt und geborgen, mit freiem Blick auf das Wasser.
Jetzt habe ich einen Platz, an den ich gehen kann, wenn alles andere zu viel und zu eng wird; von mir aus jeden Tag, morgens, mittags und abends. Er wird auf mich warten, treu und still. All die Orte, an denen Jan und ich uns nah waren, sind von diesem Punkt aus nicht zu sehen, auch nicht der Abschnitt, an dem ich in die Strömung gelaufen bin und der Sog des Frachters an mir zerrte. Jetzt wäre das gar nicht mehr möglich, der heiße Sommer hat die Stelle freigelegt. Die Kiesstrände erstrecken sich fast bis in die Fahrrinne des Flusses.
Während die Tränen weiter über meine Wangen rinnen, leicht und frei, schließe ich meine Lider und spüre meinem Atem nach, wie er meinen Bauch gleichmäßig anhebt und senkt. Wie lange wird es noch wehtun? Wird es überhaupt jemals aufhören? Und wird der Tag kommen, an dem ich es wieder wagen werde, mich selbst zu berühren – nur für mich, ohne Gedanken an ihn?
Noch immer kann ich mir nicht vorstellen, dass es mit einem anderen Mann schöner werden kann. Es war ein Geschenk. Jeder Kuss hatte die Magie des ersten Kusses, nur ohne dessen Unbeholfenheit und Zweifel. Wir staunten über uns selbst, er und ich. Wann immer unsere Hände sich berührten, taten sie es, als wären sie gerade neu geboren. Ich glaube nicht, dass man so etwas ein zweites Mal erleben kann. Ich würde es gar nicht wollen. Es war die reine, unverfälschte körperliche Liebe, ohne Argwohn und Zweifel.
Doch das Drumherum, das möchte ich nie wieder durchstehen müssen. Diese elenden, ungesunden Gedankenspiralen, die mich sowohl am Tag als auch in der Nacht geißelten, und das Zittern um die nächste Begegnung. Vielleicht war das seine Art der Macht über mich gewesen, sein Thrill. Nicht während unserer Begegnungen hielt er mich in Atem. Sondern dazwischen. Ist er wirklich so berechnend? Oder ist es seine Natur, wie die des Skorpions, der den Frosch beißt, ohne dass er es möchte – dieses Unverbindliche, Gleichmütige? Es hatte etwas Friedliches, doch es hat mich beinahe vernichtet.
Es ist müßig, darüber nachzudenken. Jan wird es mir nicht sagen. Aber ich kann wieder atmen und ich muss mich nicht länger fürchten. Das, was ich am meisten fürchtete, ist eingetroffen, weil ich es so wollte. Und ich lebe noch. Nachts sucht die Sehnsucht mich heim, drischt und knetet mich, bis ich bis in die Tiefen meines Herzens verwundet bin, doch irgendwann übernimmt der Trost ihr Regime und schenkt mir einen tiefen, heilenden Schlaf.
»Möge ich Trost finden«, raune ich mein Gebet dieser Tage. »Möge ich Trost finden.« Nicht in einer anderen Begegnung, einem anderen Mann. Aber vielleicht in den Schätzen, die ich noch in Mutter Erde finden werde. Seufzend lehne ich mich an den sonnenwarmen Stein in meinem Rücken. Frankreich … Frankreich könnte das Land des Trosts für mich sein. Doch, ich muss ein letztes Mal versuchen, meine Eltern zu überzeugen. Die Prüfungen heute liefen gut; wahrscheinlich nicht so gut wie sonst, aber zu einer Zwei wird es reichen. Das ist meine Fahrkarte nach Gallien.
Bezahlen müssen das Ticket jedoch meine Eltern. Der Lohn meines Museumsjobs ist längst verbraucht. Gestern musste ich mir sogar zwanzig Euro von Jonas leihen, um mit Josy essen gehen zu können. Jonas und ich haben nicht miteinander gesprochen, aber ich schlafe nicht mehr in seinem Bett und er macht keine Annäherungen. Er wirkt nicht traurig oder frustriert dabei. Ich glaube, es erleichtert ihn.
Noch zehn Tage bis zur Abfahrt. Kai Schuster hat das Geld vorgestreckt und den lästigen Papierkram erledigt. Für ihn ist sonnenklar, dass ich mitkomme. Und für mich? Habe ich den Mut, das alles hier zurückzulassen? Aber was genau eigentlich? Die WG? Jonas? Meine Freunde? All das ist noch da, wenn ich heimkomme. Als ich Josy gestern von meinen Plänen erzählte, reagierte sie im ersten Moment verhalten, doch das legte sich schnell, und ich ahne, warum. Sie würde sich Jonas nicht nähern, solange ich rund um die Uhr in seiner Wohnung bin. Ich muss ihr jenen Platz schaffen, den ich mir hier geschaffen habe – und den sie haben wird, wenn ich das Auslandssemester antrete. Dann kann sich alles fügen.
Morgen? Soll ich morgen mit meinen Eltern sprechen? Ich weiß, es ist Mitte August, und ich hatte in den vergangenen Tagen immer wieder diese
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