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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hier ist keine öffentliche Waschanstalt«, ermahne ich ihn matt, nachdem ich mir einen Strickmantel übergestreift habe und zu ihm ins Badezimmer gegangen bin, wo er mit geschlossenen Augen und mit lang ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzt, den Rücken an die Wanne gelehnt. Ich muss mein vorschnelles Urteil korrigieren: Selbst in dieser desolaten Verfassung könnte man ihn ablichten und an ein Magazin verkaufen. Doch ich sehe auch, dass er dunkle Ringe unter den Augen hat und offenbar Schmerzen. Sein Atem geht flach und vorsichtig, als würde er sich nicht trauen, zu tief Luft zu holen.
    »Drogen?«, frage ich zuvorkommend, obwohl ich die Antwort schon kenne.
    »Ach, alles. Bisschen Stoff, Alk, eine beschissene Party, zugekifft im Park gesessen und mit einem Karnickel geredet, versucht, eine Frau aufzureißen, und es bleiben lassen, weil ich sicher war, dass sie hässliche Füße hat …« Er drückt sich die Hand gegen den Bauch. »Eben nicht deine Füße.«
    Okay, jetzt wird es interessant. Ein Messerstich und eine warme Decke um die Schultern – er schafft es, beides in zwei Halbsätzen unterzubringen.
    »Mir den Schädel an einem Laternenpfosten angehauen, zweimal gekotzt …« Er streckt die Hand über den Wannenrand, um die Temperatur des Wassers zu prüfen. »Und dann stand ich hier vor deiner Wohnung und dachte … Ich weiß nicht, was ich dachte.«
    Ich greife nach meinem Melissenbadezusatz und gebe einen Schuss davon ins Wasser. Ein wenig Entspannung kann nach dieser Abendgestaltung nicht schaden. Knisternd beginnen sich Schaumberge zu bilden und ich muss zurück an meine Kindheit denken, als ich beim Baden immer am Waschlappen gesaugt habe, weil ich das bittere Aroma des Duschgels toll fand. Genauso, wie ich dachte, dass ich ab und zu weiße Kreide essen müsste. Offenbar hatte ich schon immer einen ausgefallenen Geschmack. Fluchend befreit Jan sich aus seinen Klamotten und ich kann nicht anders, als ihn anzuschauen. Es entgeht ihm nicht.
    »No way, Ronia. Ich will nur baden. Ehrlich. Da tut sich heute nichts mehr.«
    Ich spare mir einen giftigen Kommentar und verkneife es mir auch, zu fragen, warum er ausgerechnet bei mir baden will. Eine vernünftige Antwort würde ich sowieso nicht bekommen. Als er unter- und wieder auftaucht und sich die Haare zurückstreicht, bemerke ich winzige Vorandeutungen von Geheimratsecken an seinen Schläfen. Nie zuvor waren sie mir aufgefallen. Er wird mal seine Haare verlieren, denke ich mit einer fast gerührten Wärme im Herzen. Früher als andere. Und er weiß es.
    »Ich weiß«, beantwortet er meine Gedanken und begegnet meinem Blick ohne jede Scham oder gar Verlegenheit. »Ist halt so. Ein schönes Gesicht braucht Platz.«
    Ich muss lachen, mit den Händen vor den Augen und leicht verzweifelt, aber es ist ein Lachen, seit Stunden das erste. Oh verdammt, wenn ich nur einen Hauch seines Selbstbewusstseins hätte, könnte mir das Leben nicht immer so erbarmungslos in den Hintern treten.
    Auch jetzt verzichte ich auf einen Konter. Ich will nicht mehr. Nicht mehr diskutieren, nicht mehr streiten. Keine rhetorischen Schlachten mehr. Ich verliere sowieso. Nicht mit Worten, sondern mit meinen Gefühlen. Er ist eben so, wie er ist, und ich konnte es noch nie leichter annehmen als jetzt, wo er so blass und erschöpft in der Badewanne hängt und nicht einmal an Sex denken will.
    Noch immer möchte ich ihn fragen, warum er hier ist, was das alles soll, aber auch diese Frage kommt nicht über meine Lippen. Ich sitze still da, lausche seinem Atem, der langsam tiefer und freier wird, und lasse den Melissenduft in meiner Nase kitzeln. Frieden, denke ich gelöst. So muss sich Frieden anfühlen.
    »Weißt du, es gibt gar nicht viel zu erzählen«, beginnt er unvermittelt, die Lider wieder gesenkt und den Nacken auf dem kalten Wannenrand. Die feinen Härchen auf meinen Unterarmen, die in den vergangenen Tagen nachgewachsen sind, richten sich neugierig auf. Erzählen? Er will von sich erzählen? Mucksmäuschenstill bleibe ich sitzen, ohne ihn anzusehen. »Es war alles so, wie es sein sollte. Vater und Mutter, Sohn und Tochter, ein Häuschen auf dem Land. Ich hatte keine schlechte Kindheit oder so. Wurde nicht geschlagen, auch nicht missbraucht. Alles easy. Viel Playmobil und Lego, ein Hund …« Er stockt. »Mein Hund. Er war mein Bruder, weißt du?« Seine Stimme ist noch etwas dunkler geworden als sonst. »Damir, ein Collie-Mix. Mein Bruder. Hast du ihn schon

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