Vor uns die Nacht
gesehen?«
Gesehen? In meinen Träumen? Meint er das? Es sind immer Schatten hinter ihm, wenn er mir begegnet, in all dem blauen Licht, das ihn umgibt. Höre ich Tränen in seiner Stimme?
»Aber es war – es war wie diese Stille, bevor etwas Katastrophales passiert. Es war zu ruhig. Wir redeten zu wenig. Jeder erledigte seine Aufgabe, wir aßen zusammen und fuhren gemeinsam in den Urlaub, aber eigentlich waren wir Fremde. Ich kann nicht behaupten, dass ich meine Schwester besser kenne als dich. Ehrlich nicht. Und ich kenne dich kaum. Aber sie ist mir fern, hier.« Er berührt mit dem Daumen seine Brust.
Ich traue mich nicht, seine Worte zu kommentieren. Alles, was ich will, ist, dass er weiterspricht. Wahrscheinlich ahnt er es nicht, aber er überreicht mir gerade einen unbezahlbaren Schatz, dessen Kostbarkeiten ich kaum zu berühren wage. Und ich musste nicht einmal danach suchen.
»Ich kann dir keine tragischen Geschichten auftischen. Es war das Übliche, was man tausendmal hört und liest, der Vater geht fremd und zieht aus, die Mutter dreht ab, mutiert zur Emanze, nachdem sie wochenlang geheult hat. Sie hat immer geheult. Ich kam nach Hause und sie hat geheult. Überall Taschentücher. Sie hat gekocht und gewaschen und den Haushalt geschmissen, doch sie tat es heulend. Das hält man nicht aus, das ist krank. Ich hab mich gefühlt wie in einer Zeitschleife. Ich war elf und alles, was ich zu Hause zu sehen bekam, war eine dauerheulende Mutter.«
Ich muss selbst gegen die Tränen kämpfen. Um Himmels willen, Ronia, ermahne ich mich. Reiß dich am Riemen. Nun verstehe ich, warum er so tat, als gäbe es mich nicht, als wir bei ihm den Film geschaut haben und ich beinahe losgeheult hätte. Ich hab ihn daran erinnert.
»Na ja, und dann hat sie sich gefangen, fing an, mir täglich aufzuzählen, worauf sie alles verzichtet hat die vergangenen Jahre, und beschloss, von nun an nur noch Dinge zu machen, die ihr guttun. Eines dieser Dinge hieß Bernd. Bernd, das Brot.«
Ich unterdrücke ein Kichern. Jan hat ihn vermutlich das Fürchten gelehrt.
»Kein Witz, Ronia, der sah aus wie ein Brot und war hohl wie ein Brot. Hauptschullehrer, so ein richtiger Vollblutpädagoge. Ätzend. Hat gedacht, er könnte mit mir auf gut Freund machen. Ich hab ihn unter den Tisch gesoffen, dann war Ruhe. Aber das ist auch alles egal, spielt keine Rolle, da war nichts Schlimmes. Wenn du ein Drama willst, irgendeine tragische Story, ein Trauma – sorry, hab ich nicht. Gibt’s nicht.«
Ich finde tragisch, was ihm geschehen ist. Es war ein Drama, ein stilles zwar, aber deshalb nicht minder zerrüttend. Doch auch das wage ich nicht zu sagen, denn ich habe das Gefühl, dass meine Worte hier nichts zu suchen haben. Es vergehen ein paar Minuten, in denen wir schweigen, Jan im dampfenden Wasser, ich auf den kalten Fliesen. Ich war selten zufriedener in meinem Leben.
»Du bist genervt, weil deine Eltern so auf dich achten und das Beste für dich wollen. Dich in ihrer Nähe halten. Ich wünschte, das wäre mal so gewesen. Die haben mich einfach nicht mehr gesehen. Ich hab mir selbst das Ohr gepierct und mein Vater hat es erst nach zwei Tagen bemerkt. Die waren nur mit sich selbst beschäftigt und Lena hat längst studiert. Ich konnte machen, was ich wollte, sie haben es toleriert. Niemand hat sich aufgeregt. Ist halt ein Scheidungskind. Schwierige Phase. Ich wäre froh, ich hätte wenigstens einen einzigen Anschiss bekommen in all den Jahren. Von mir aus hätten sie mich schlagen können oder einsperren. Nur damit ich merke, dass ich auch noch da bin. Stattdessen bezahlen sie mir eine teure Privatschule nach der anderen, damit sich irgendwelche Lehrer drum kümmern. Shit …«
Noch einmal taucht er unter. Wäscht sich die Haare und das Gesicht, reibt sich über seine müden Augen.
»Ich will nicht so werden wie sie. Nur noch um mich selbst kreisen und die anderen nicht mehr bemerken. Ich möchte dich bemerken. Mit allem. Und wenn es eine ganz große Scheiße ist, die da kommt. Ich will dich bemerken. Du bist bemerkenswert, Ronia. Geht das in deinen Dickschädel rein?«
»Seit wann …?« Ich kann kaum sprechen, so eng ist meine Kehle geworden. »Seit wann weißt du das?«
»Seitdem ich vorhin mit dem Karnickel geredet habe. Also noch nicht lange. Aber das ändert nichts. Ich weiß es.«
»Nur weiß ich nicht, ob mir das reicht.« Ich könnte mich ohrfeigen für diese Worte. Doch sie waren schneller als mein Verstand. Was nur wollen sie
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