Vor uns die Nacht
bohrenden, diffusen Bauchschmerzen, die mich jedes Jahr um diese Zeit befallen, aber das ist kein rationaler Grund. Was hält mich wirklich davon ab? Ist es das Geld, das ich erbetteln muss und das sie in jedem Falle haben? Oder ist es die Ankündigung, dass ich monatelang fort sein werde, die ich ihnen nicht zumuten will?
Ich finde auch dann keine Antwort, als meine Tränen getrocknet sind und ich längst wieder zu Hause bin. Wie auch die vergangenen Abende liege ich auf dem Bett, lausche in die zur Ruhe kommende Stadt und sehe den Streifen der Abendsonne zu, die über die Wand wandern und sich nach und nach zurückziehen. Alles andere ist so uninteressant geworden – Fernsehen, Lesen, Ausgehen, im Internet surfen. Mir ist nicht langweilig, wenn ich hier liege und nichts tue. Es kommt mir vor wie der Urlaub, den ich schon lange Zeit brauchte.
Irgendwann stehe ich auf, strecke mich ausgiebig, trinke mein abendliches Glas Wasser mit Mineralien, nehme eine lauwarme Dusche und krieche unter meine Decke – ohne Musik in den Ohren. Musik geht noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich die Songs, zu denen ich von Jan träumte, eines Tages wieder hören können werde, ohne zu weinen.
Stattdessen lege ich meine Handflächen auf meinen Unterbauch und warte, bis mein Blut sich beruhigt und ich dem Schlaf die Tür öffnen kann. Er ist tiefer geworden und seine Träume lebhafter, farbiger. In jedem meiner frühmorgendlichen Bilder stehe ich irgendwann an einem Brunnen mit klarem, bläulich schimmerndem Wasser und verspüre den Wunsch, tief hineinzutauchen. Kopfüber. Doch ich traue mich nicht.
In dieser Nacht wage ich es, meinen Arm auszustrecken und mit meinen Fingern die Oberfläche zu durchkämmen – und sofort schreckt mich ein schrilles Klingeln auf. Ich wusste es, ich darf es nicht. So gerne würde ich das Wasser berühren und kosten … Artig verschränke ich die Hände hinter meinem Rücken und warte auf meine verdiente Strafe. Aber warum klingelt es erneut? Und ein drittes Mal? Ich tu doch gar nichts mehr.
Verwirrt öffne ich meine Augen. Es klingelt wirklich, nicht in dem Garten mit dem Brunnen, sondern hier, in unserer WG. Hat Jonas etwa seinen Schlüssel vergessen? Jonas vergisst doch nie etwas. Doch wer soll es sonst sein?
Mit rauschenden Ohren und leichtem Schwindel im Kopf, vor meinen Augen immer noch das glitzernde Brunnenwasser, husche ich durch den Flur und betätige den Summer. Hätte ich nicht besser die Sprechanlage benutzen sollen? Um mich zu vergewissern, dass es Jonas ist? Nun ist es zu spät. Seine Schritte poltern bereits die Treppe hinauf.
Poltern? Nein, Jonas poltert niemals. Das kann er nicht sein. Oder ist er auf Streife verletzt worden? Ich öffne die Tür einen Spalt und luge hinunter auf die Treppe, wo mir ein zutiefst vertrauter Schatten entgegentorkelt, die eine Hand in der Jackentasche, die andere klammernd am Geländer, aber trotzdem noch in der Haltung eines selbstverliebten Göttersohns. Einen Moment lang bin ich fest überzeugt zu träumen, doch der Geruch nach durchnässtem Leder und Nikotin ist so stark, dass die Realität über das unwirkliche Gefühl in mir siegt.
»Was machst du denn …?« Ich knipse die Flurlampe an, um mich vollends davon zu überzeugen, dass er es ist und nicht irgendein Penner, der sich in der Haustür geirrt hat. Aufstöhnend dreht Jan sich zur Seite und hält die Hand vor seine Augen.
»Licht aus, sofort.« Seine Stimme klingt, als habe er Sägemehl inhaliert.
»Oje.« Mein Ausruf kommt aus dem tiefsten Herzen und hat einen unverkennbar mütterlichen Klang. Hier steht kein sexy Model, sondern ein Bild des Elends vor mir. Und irgendwie mag ich es. Deshalb lasse ich das Licht an. Er soll ruhig ein wenig weiterleiden. Ich leide schließlich auch.
»Badewanne. Bitte. Eine heiße … Ich will nur baden. Mehr nicht.«
»Es ist vier Uhr morgens«, sage ich streng, nachdem ich auf meine Armbanduhr geschaut habe, lasse ihn aber trotzdem durch die Tür schlüpfen, wo er sofort die Lederjacke von den Schultern streift und zu Boden fallen lässt. »Und du hast Hausverbot in dieser… ach, drauf geschissen.« Es ist tatsächlich egal, was ich tue. Ich bin schwer krank, ich darf alles. Außerdem ist Jonas, der dieses Hausverbot vor einigen Wochen eher unmotiviert erteilt hatte, nicht hier. Schlurfend bewegt Jan sich den Flur hinab, und obwohl er noch nie in dieser Wohnung war, strebt er zielsicher das Bad an. Eine Sekunde später höre ich Wasser rauschen.
»Das
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