Vor uns die Nacht
dieses Loft zu betreten. Noch bevor ich den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, fiel mein Blick auf Lukas. Es wäre genügend Zeit geblieben, unauffällig zu verschwinden, bevor auch er mich sieht, wenn mir nicht der Weg versperrt worden wäre. Vor allem aber will ich ihn nicht sehen, schon gar nicht zusammen mit seiner Ex- und Wieder-Freundin. Denn die wird sicherlich auch da sein.
»Er ist alleine hier, glaub ich«, mutmaßt Johanna und zieht mich ein Stück weit in den Flur. Die Leute stehen hier dicht an dicht, mit Bierflaschen und Sektgläsern in den Händen, und reden schreiend miteinander, um die Musik zu übertönen. »Also, nur mit seinen Kumpels. Ich sehe keine Frau in seiner Nähe. Kannst dich entspannen.«
Es ist wie immer, Johanna weiß, was ich denke. Oft habe ich mich darüber gefreut, jetzt fühle ich mich entblößt. Doch sie hat recht, ich benehme mich wie ein Teenager.
»Okay, lass uns reingehen – aber lange bleibe ich nicht.« Gerade habe ich sehen können, dass Lukas mit seinen Freunden am Ende des Flurs in einen anderen Raum verschwunden ist – fast als würde er spüren, dass ich mich nähere. Daher steuere ich die Stirnseite des Lofts an, einen riesigen Raum mit hohen Fenstern, der nur spartanisch eingerichtet ist. Thorsten, der hier wohnt, kennen wir nur vom Sehen, aber an Silvester genügt das, um eingeladen zu werden. So ist das jedes Jahr, man wagt sich gegen Mitternacht ins Zentrum und bringt sich dann auf einer Privatparty in Sicherheit. Doch so weit weg abseits der Hauptstraße hatte es Johanna und mich noch nie verschlagen. Dieses Loft befindet sich innerhalb eines alten Industriekomplexes in der Nähe des Flusses, dessen breiter Strom unterhalb der bodentiefen Fenster dunkel glitzernd vorüberzieht. Johanna und ich haben uns sogar ein Taxi geteilt, um nicht laufen zu müssen, denn wir tragen beide unsere hochhackigen Tussistiefel – sie zu einem langen, weichen Rock, ich zu hautengen dunkelblauen Jeans.
Vom vielen Stehen in der Kälte schmerzen meine Beine und mein Rücken, außerdem müsste ich dringend aufs Klo. Während Johanna uns etwas zu trinken organisiert, lehne ich mich an eine der vier Säulen, die die Ecken des Raums schmücken, und blicke leer in die feiernden Menschen hinein. Es ist, als ob ich ein Bild betrachten würde. Ich höre die Leute nicht einmal. Auch die Musik wirkt wie monotoner Lärm auf mich. Diese Party ist für mich gelaufen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Wenn ich dieses Out-of-space-Gefühl habe, ist der Abend nicht mehr zu retten. Ich könnte mich höchstens noch betrinken. Doch richtig voll war ich noch nie und das möchte ich auch nicht ändern. Mir reicht, wozu mich mein letzter Schwips getrieben hat.
Ärgere ich mich denn wirklich so sehr darüber, dass Lukas hier ist? Es war doch klar, dass er mir früher oder später über den Weg laufen wird. Diese Stadt ist einfach zu klein, als dass man ein zufälliges Wiedersehen vermeiden könnte. Und inzwischen bin ich mir sicher, dass ich ihm keine zweite Chance geben würde. Oder rührt meine schlechte Laune daher, dass ich Jan heute Abend nicht begegnet bin? Hatte ich vielleicht klammheimlich gehofft, er würde in den Menschenmassen auf der Hauptstraße plötzlich vor mir auftauchen?
Und dann – was wäre dann gewesen? Bestimmt hätten wir einander nicht freudestrahlend begrüßt, wären uns um den Hals gefallen und hätten uns ein frohes neues Jahr gewünscht. Was immer er auch getan oder nicht getan hätte – es hätte mich frustriert. Genauso, wie es mich frustriert, dass ich jeden einzelnen Tag seit unserer Begegnung an ihn denken muss, teilweise in den unmöglichsten Situationen. Ich habe keine Macht, jene Bilder zu verdrängen, die sich plötzlich vor mein geistiges Auge schieben – und wenn ich es doch mal einen Tag lang schaffe, suchen sie mich spätestens vor dem Einschlafen heim. Seine Nachricht im Messenger habe ich gelöscht und sicherheitshalber auch noch mal auf dem PC; die Spuren sind vernichtet. Außerdem habe ich den Cache meines Internetbrowsers geleert, die Tatsache ignorierend, dass ich nur ein weiteres Mal Jay River eingeben muss, um sein Schlampenfoto aufrufen zu können. Doch es fällt mir leicht, nicht in Versuchung zu geraten. Ich will nicht sehen, wie er sich anpreist. Auf die Vorstellung, dass er sich von erfahrenen Frauen verwöhnen lässt, reagiere ich beinahe eifersüchtig. Ich weiß sehr wohl, dass das völlig übersteigert ist – ach, es ist
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