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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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deine Gouvernante eigentlich, wenn du sie brauchst?«, höre ich Jans Stimme hinter mir durch die Nacht schallen – dann keucht auch er schmerzerfüllt auf und ein sattes Klatschen verrät mir, dass die zwei anderen nicht tatenlos bleiben. Auch der Dicke wird nicht ewig ausgeknockt am Boden liegen. Einer gegen drei – das ist doch völlig verrückt. Ich bleibe stehen und drehe mich um.
    »Lauf! Wie oft soll ich es dir noch sagen, hau endlich ab!«
    Gebannt sehe ich dabei zu, wie Jan einem der beiden Dünnen in den Unterleib tritt, roh und ungehemmt. Der Dicke hat sich wieder aufgerappelt und beginnt, auf den Asphalt zu kotzen. Trotzdem gehorche ich. Es ist falsch, ich darf nicht abhauen, ich kann Jan so nicht alleinlassen. Er hat keine Chance … Und doch laufe ich ohne Pause, mit hallenden Absätzen, bis ich endlich die WG erreicht habe. Schluchzend schlurfe ich die Treppe hoch, öffne die Tür, trete sie zu und sinke augenblicklich zu Boden. Endlich bin ich in Sicherheit. Hier in meinem Reich kann nichts passieren. Mit letzter Kraft schiebe ich den Riegel vor und drehe den Schlüssel bis zum Anschlag. Ein paarmal muss ich würgen – es ist der Schreck, aber vor allem das Laufen. Ich hab überhaupt keine Kondition, in gar nichts. Weder vernünftig treten noch schreien noch rennen konnte ich. Die hätten alles mit mir machen können. Im Staub nach Scherben zu suchen, ersetzt nun mal kein Fitnessstudio, das sollte ich mir ein für alle Mal merken.
    »Jan … oh Gott, Jan …« Auf allen vieren robbe ich zur Flurkommode, ziehe das Telefon zu mir runter und wähle die Polizeizentrale. Jonas hat die Nummer eingespeichert und zum ersten Mal brauche ich sie. Sofort nimmt jemand ab.
    »Können Sie mich mit Jonas verbinden? Bitte, Jonas Tscharnezki, es ist dringend.«
    »Sind Sie verletzt? Ist alles in Ordnung? Wo befinden Sie sich?«
    »Zu Hause«, antworte ich geistesgegenwärtig. »Ich bin unverletzt und in Ordnung.« Das ist die Lüge des Jahrtausends. »Aber draußen im alten Industriehafen wird jemand verprügelt, von drei Männern, ich bin … ich bin vorbeigefahren, habe mich aber nicht getraut einzugreifen.« Nein, ich bin beinahe vergewaltigt worden! Warum sage ich das nicht? Wieso schweige ich? »Heissestraße, glaube ich. Bitte machen Sie schnell, bitte!«
    »Es ist schon jemand unterwegs.« Ich höre, wie er einen knappen Befehl über Funk abgibt. »Geht es Ihnen wirklich gut? Sind Sie eine Bekannte von Herrn Tscharnezki?«
    »Ja. Und ja, es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt. Danke. Können Sie …« Worum will ich ihn eigentlich bitten? Dass er mir Bescheid sagt, ob Jan die Schlägerei überlebt hat? Was für ein Quatsch. Das findet außerdem Jonas für mich heraus. »Nein, alles in Ordnung.«
    »Herr Tscharnezki hat um vier Uhr Dienstschluss. Ich teile ihm über Funk mit, dass Sie angerufen haben, Frau … Frau?«
    Doch ich habe schon aufgelegt. Vier Uhr. Das ist in einer halben Stunde. Diese halbe Stunde werde ich schon überleben.
    Auf den Knien krieche ich ins Wohnzimmer und wuchte mich in meinen Sessel, wo ich starr sitzen bleibe, bis sich endlich Jonas’ Schlüssel in der Tür dreht.

Strahle sanft
    U nd? Wissen sie was? Haben sie ihn gefunden?«
    Mahnend hebt Jonas die Hand, um mir zu bedeuten, dass ich schweigen soll. Er lauscht weiter in den Hörer, während ich vor Anspannung an den Nägeln kaue – bis ich mich daran erinnere, dass ich mit diesen Händen den Dicken berührt habe, und angewidert davon ablasse. Dabei habe ich mir die Finger mindestens fünf Mal gewaschen.
    Bang schaue ich Jonas an und versuche, an seinem Gesicht abzulesen, was er gerade hört. Endlich legt er auf. Verneinend schüttelt er den Kopf.
    »Nichts außer ein paar entlaufenen Hunden aus dem Tierheim, wahrscheinlich wegen der Knallerei. Aber ansonsten wurden keine besonderen Vorkommnisse aus dem Industriehafen gemeldet.«
    »Aber das kann nicht sein!«, rufe ich panisch. »Ich hab es mit meinen eigenen Augen gesehen.«
    »Und bist dann weggerannt«, vollendet Jonas meinen Satz ruhig. »Oder?«
    »Ja, aber …« Ich weiß nicht, wie ich ihm die Dringlichkeit meines Anliegens klarmachen soll. Doch es muss einen Weg geben, herauszufinden, ob Jan sein Selbstmordkommando heil überstanden hat.
    »Kann doch gut sein, dass der Typ ebenfalls getürmt ist – oder er konnte sich durchsetzen. Von neunzig Prozent aller Prügeleien bekommen wir gar nichts mit, weil sie glimpflich ausgehen und keiner die Polizei

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