Vor uns die Nacht
ruft.«
»Und im Krankenhaus wurde niemand eingeliefert? Kannst du das rauskriegen?«
»Ronia, dein Engagement für fremde Raufbolde in Ehren, aber mich würde eher interessieren, warum du mitten in der Silvesternacht alleine in einer solchen Gegend herumläufst. Ich hab dir so oft gesagt, dass du nachts nicht ohne Begleitung durch die Stadt gehen sollst – schon gar nicht an Silvester im alten Industriehafen. Was wolltet ihr überhaupt dort?« Jonas ist müde, ich höre es an seiner matten Stimme und kann es in seinen leicht geröteten Augen sehen. Er würde gerne ins Bett gehen und sich gründlich ausschlafen. In gut sieben Stunden beginnt sein nächster Dienst. Nur meinetwegen sitzt er morgens um sechs am Küchentisch, trinkt Tee und behelligt seine Kollegen, die sich langsam über seinen Übereifer wundern werden. Ja, für ihn ist meine Penetranz nur schwer zu verstehen. Denn ich habe ihm weder gesagt, was mir selbst kurz vor der Schlägerei passiert ist, noch, dass es River war, der sich eingemischt und es gleich mit drei Kerlen auf einmal aufgenommen hat. Die Version für Jonas ist so simpel wie falsch: Ich sah, wie ein junger Mann sich mit drei anderen prügelte. Oder, weil Jonas meine Schilderung nur wenig beeindruckte, ein wenig dramatischer: Ich sah, dass ein junger Mann von drei anderen verprügelt wurde. Dabei wünsche ich mir inständig, dass Jan die drei das Fürchten gelehrt hat.
»Wir waren dort auf einer Party eingeladen und die Party war doof«, antworte ich vage und starre aufs Telefon, als könne es mir verraten, was Jan geschehen ist. Einen Toten würden sie doch melden, oder? Die Leiche eines jungen Mannes würde selbst in solch einer menschenleeren Gegend auffallen, spätestens nach ein paar Stunden. Aber was ist, wenn er sich in irgendeinen Hauseingang geschleppt hat und von der zur Kontrolle durch die Heissestraße fahrenden Streife nicht gesehen wurde? Oder haben die drei Typen ihn am Ende mitgenommen? Liegt er jetzt grün und blau geschlagen bei ihnen im Keller?
»Eine doofe Party. Ronia, bitte, speis mich nicht mit so was ab. Deshalb haut man doch nicht Hals über Kopf alleine ab. Lukas war da, oder?«, holt Jonas mich gähnend aus meinen wüsten Räuber-und-Gendarm-Fantasiegebilden zurück. Kriminalromane sollte ich besser nicht verfassen.
»Jep«, erwidere ich kurz angebunden. Es hat ja keinen Sinn zu lügen, wenn mein Umfeld von meiner Stirn ablesen kann, wie mein Leben in all seinen Hochs und insbesondere Tiefs verläuft. »Und er hat mies über mich geredet. Hab es zufällig mitbekommen.«
Jonas runzelt die Stirn und wirkt schlagartig wacher. Ich habe sein Ritterethos erweckt. »Über dich geredet? Was denn genau?«
»Ach, dass ich komisch wäre und so …« Ich kann es ihm nicht sagen. Es wäre gut, offen zu reden, das weiß ich. Über Lukas’ fiese Diffamierungen und vor allem über die Beinahe-Vergewaltigung. Jonas würde vor Wut schäumen. Eigentlich müsste ich die Typen anzeigen. Aber ich schäme mich für beides und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ich keine Schuld trage. Hätte ich mich jedoch anders verhalten, wäre vielleicht nichts passiert. Ich bin vom Regen in die Traufe geraten. »Dass man vor mir Angst bekommen kann«, vollende ich mein abwesendes Gestammel fahrig, weil sich das Schweigen zwischen uns unangenehm in die Länge zieht.
»Hm«, macht Jonas und ich kann nicht deuten, was sich dahinter verbirgt – Zweifel, Neugierde, Verständnis? Oder ein leiser Vorwurf? »Das ist doch Quatsch«, fügt er nach einer kleinen Pause halbherzig hinzu. »Das weißt du auch selbst. Nimm das nicht so ernst.«
»Es hat mich verletzt«, flüstere ich. Jonas beugt sich nach vorne und legt behutsam seine Hand auf meinen Unterarm. Nur das, mehr nicht. Für den Moment ist das in Ordnung. Seine Finger sind angenehm kühl und trocken. Er trägt noch seine Uniform, wie so oft, wenn er nach Dienstschluss nach Hause kommt. Dabei hat er seinen Spind im Revier und könnte sich wie seine Kollegen dort umziehen. Anscheinend turnt er gerne in seinem Bullenkostüm vor mir herum. Es steht ihm auch, das muss ich zugeben. Jetzt hat die blaue Uniform sogar eine beruhigende Wirkung auf mich. Von mir aus soll er damit ins Bett gehen.
»Es ist doch auch erst eine Woche her, dass er Schluss gemacht hat. Das geht nicht so schnell, Ronia. Gibt dir ein bisschen Zeit. Konzentrier dich auf andere Dinge.«
Das würde ich zu gerne und hätte es beinahe geschafft – aber wie soll ich
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