Vor uns die Nacht
an die Party gedacht hab. Ich bin nur noch gerannt. Sonst hätte ich längst angerufen.«
»Oje … Jonas ist bei dir?«, piepst sie verschnupft in den Hörer und unterdrückt ein Gähnen. Oder ein Schluchzen?
»Ja. Er hatte um vier Dienstschluss. Wir trinken gerade Tee. Äh, Johanna?« Ich muss lachen. »Du hast doch eben mit ihm gesprochen. Das war Jonas, wer denn sonst?« Ich glaube, wir brauchen alle drei dringend eine Mütze Schlaf.
»Ja. Stimmt. Das ist gut, dass er bei dir ist. Ich dachte nur, ich … keine Ahnung.« Einen Moment lang verspüre ich den Impuls, sie zu fragen, ob sie vorbeikommen will, weil ich glaube, dass sie genau das möchte. Aber das ist idiotisch. Sie muss sich ausruhen, genauso wie Jonas und ich. Und was hätte sie davon, mit zwei Leichen in der Küche zu sitzen und widerwärtigen Kräutertee zu trinken?
»Ich ruf dich morgen an. Wir treffen uns irgendwo zum Kaffee und dann reden wir, ja? Schlaf gut.«
»Nacht, Ronia. Und mach das nie wieder.«
Irgendwo zum Kaffee – am besten in einem anderen Land. Oder spätabends in der WG bei verdunkelten Fenstern. Aber nicht in einem Café dieser Stadt. Auch nicht bei meinen Eltern. In meiner Fantasie sind Zentrum und Altstadt bereits von überlebensgroßen Fotos von mir plakatiert und über meinem Kopf steht in fetten Lettern geschrieben: »Kriegt die Beine nicht auseinander«. Ein Grund mehr, endlich von hier wegzuziehen, doch das haben meine Eltern mir erfolgreich ausgeredet. Es passte ja auch plötzlich alles: das Zimmer in Jonas’ Wohnung, mein Studienplatz in Heidelberg, wo die WGs sowieso unbezahlbar sind, und Johannas Entscheidung, ebenfalls in Heidelberg zu studieren. Germanistik sei schließlich überall das Gleiche. Sie hat das mir zuliebe getan, das weiß ich. Um es mir leichter zu machen. Dabei hatte sie schon eine Zusage aus Hamburg. Und ich schicke sie in einer meiner gefürchteten Hals-über-Kopf-Aktionen einmal durch die Hölle und zurück.
Verlegen gebe ich Jonas das Telefon zurück, der es sofort in die Ladestation stellt und, ordentlich, wie er ist, unsere beiden Tassen spült. Mit trübem Blick sehe ich ihm dabei zu. Johannas Stimme hat mich geerdet und gleichzeitig den Schrecken des Abends intensiver werden lassen – auf eine ferne, groteske Art und Weise. Ich fürchte mich vor meinen eigenen Erinnerungen, doch noch habe ich das Gefühl, ihnen ausweichen zu können, solange ich nur wachsam genug bleibe. Was sich jedoch nicht auf Distanz halten lässt, ist meine Sorge um Jan. Mein Handy liegt zwar bei Johanna, aber der Laptop ist hier. Ich werde Jan eine Nachricht schreiben – und wenn es mich meinen letzten Rest Stolz kostet.
Unter Schmerzen erhebe ich mich. Meine Waden krampfen und in den Knien spüre ich jede meiner Sehnen. Ich sollte wirklich anfangen, Sport zu treiben. Langsam rächt es sich, dass ich seit dem Abi keine Turnhalle mehr von innen gesehen habe. Das ist okay, solange ich Seminararbeiten schreibe und lediglich vom Vorlesungssaal zur Bibliothek und wieder zurück cruise. Bei Schlägereien und in anderen Extremsituationen erweist es sich jedoch als tendenziell ungünstig. Vielleicht wäre das ein guter Vorsatz fürs neue Jahr: ein Abo fürs Fitnessstudio buchen. Oder besser gleich einen Selbstverteidigungskurs belegen?
»Gute Nacht«, sage ich müde und drücke meine Stirn an Jonas’ uniformierte Schulter. Er verharrt in der Bewegung, die Tasse in der einen und das Küchenhandtuch in der anderen Hand.
»Willst du vielleicht …«, setzt er an, unterbricht sich aber sofort selbst. Er weiß, dass ich ablehne. »Gute Nacht.«
Nein, ich will nicht neben ihm in seinem Bett schlafen. Nicht im Wissen um seine Wünsche. Wenn es diese Wünsche nicht gäbe, könnte ich mir nach einer solchen Nacht allerdings keinen besseren Platz vorstellen als in seinem Bett. Es ist traurig, dass es so ist und nicht anders. Auch für mich.
Nachdem ich mich unter der Dusche dreimal von Kopf bis Fuß eingeseift habe, fahre ich meinen Laptop hoch und logge mich in meinen Facebook-Account ein. Sofort gebe ich Jans Initialen in die Suchmaske – doch es laufen keine Ergebnisse ein. Null Treffer. Das kann nicht sein! Er hatte mir doch eine Nachricht geschrieben. Es muss ihn geben. Ich versuche es erneut und in mehreren Variationen. Viele Jans, aber keinen mit verendenden Sternen als Profilbild. Auch unter Jay R.S. – kein passender Treffer. Es gibt ihn nicht mehr.
Plötzlich friere ich so stark, dass es sich wie der Vorbote
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